Carin Müller bloggt ...

BREXIT - oops, they did it!

Ist es denn die Möglichkeit, der BREXIT ist da! Die Briten haben es tatsächlich getan und "NO" gestimmt zum Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft. Und auch am Tag nach Verkündung des Referendumsergebnisses, sind die Reaktionen darauf vielfältiger als die EU Mitglieder hat. Man kann es einfach nicht fassen. Man will es nicht glauben.

Übrigens auch viele im Königreich nicht. Dort hat immerhin knapp die Hälfte für einen Verbleib in der Union gestimmt - vor allem die Jüngeren, Zweidrittel aller Schotten und die meisten Nordiren. Auch einige BREXIT-Befürworter kratzen sich bereits heute voller plötzlicher Zweifel am Kopf, statt mit Schampus und Kaviar den Sieg ihres Volkswillens zu feiern. Denn das größte Versprechen der BREXIT-Initiatoren wurde bereits schon wieder kassiert. Es hieß, dass die angeblich wöchtenlich 350 Millionen Pfund, die Großbritannien an die EU zahlt (diese Zahl stimmt natürlich nicht, but who cares?), praktisch sofort ins völlig marode Gesundheitssystem des Landes fließen soll. Diese Ankündigung, die laut Umfragen DAS wesentliche Argument für viele der älteren Wähler war, für den Austritt zu stimmen, hat UKIP-Chef Farage gestern - quasi unmittelbar nach dem Wahlsieg - schon wieder gekippt. Warum wohl?

Exit from BREXIT?

Nordirland erwägt den Anschluss an Irland, Schottland will raus aus dem Königreich und rein in die EU. Über eine Million Briten haben heute bereits für ein neues Referendum gestimmt, offenbar um den Exit vom BREXIT zu erreichen. Premierminister Cameron, der übrigens das ursprüngliche Referendum persönlich angestoßen hat!, weigert sich nun, den Austritt offiziell bei der EU zu beantragen und sagt, das möge doch bitte sein Nachfolger tun, der im Oktober das Amt übernimmt. Boris Johnson, Ex-Bürgermeister von London, großer BREXIT-Verfechter und Trump-Doppelgänger, der wohl Cameron beerben will, tönt jedoch, dass es ja so wahnsinnig eilig nicht sei mit dem Austritt. Und so weiter und sofort ...

Wenn es nicht alles so schrecklich traurig wäre, könnte man über diese ganze Sache als gigantischen Monty-Python-Sketch betrachten. Doch leider ist es wirklich und wahrhaftig passiert. Und keiner weiß, welche Konsequenzen es haben wird. Für die Briten, für Europa, für jeden von uns.

Warum nicht Great Europe statt Great Britain?

Als ich Mitte der 80er-Jahre auf Schüleraustausch in Straßburg war, haben wir dort auch das EU-Parlament besichtigt und eine Führung gehabt. An die Details kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an das Gefühl, dass dieser Besuch bei mir, dem nerdigen Teenager und Star Trek-Fan ausgelöst hat: aus der Europäischen Gemeinschaft (die damals übrigens noch viel kleiner war als heute), könnte irgendwann mal, vielleicht in nicht allzuferner Zukunft eine echter Staat werden. Ich hatte mir das damals ähnlich vorgestellt wie die USA - und es als ersten Schritt in Richtung einer Weltgemeinschaft empfunden. Eine Vorstellung, die ich immer noch schön fände, aber inzwischen begriffen habe, dass ich diese Utopie sicher nicht mehr erleben werde.

Dabei würde eine europäische Republik so viele Probleme beheben - wie man wunderbar in diesem Interview mit der PolitikwissenschaftlerinUlrike Guérot nachlesen kann. Sie sieht die aktuelle EU übrigens auch durchaus kritisch - der ganze schwerfällige, technokratische Apparat, das Ungleichgewicht, die teils undemokratischen Strukturen. Doch noch kritischer sieht sie das erstarkende Nationalstaatsdenken. Zurecht wie ich meine, denn glaubt denn wirklich jemand ernsthaft, dass alles besser wird, wenn ich meine Grenze dicht mache und meine Landesflagge in den Vorgarten stelle? Ich fürchte, das glauben im Moment eine ganze Menge Leute. Weil sie irrationale Ängste haben, die von skrupellosen Hetzern à la Boris Johnson (oder Donald Trump) mit Wonne aufgegriffen und verstärkt werden.

An der EU ist im Moment wirklich nicht viel sexy, aber wäre es nicht besser, wir würden alle ein bisschen Energie darauf verwenden, DIESE Zustände zu ändern, statt zu heulen und wie beleidigte Kleinkinder die eigenen Sandförmchen zu beschützen? Und bitte jetzt nicht das Argument, dass man gegen "die da oben" ohnehin nichts ausrichten kann. In sämtlichen europäischen Staaten (auch in den Nicht-EU-Ländern) herrscht Demokratie. Will heißen, die Macht liegt beim Volk. Jeder Bürger kann etwas tun - wenn er es denn wirklich will!

Vielleicht bin ich naiv oder dämlich, aber ich habe die Hoffnung auf ein echtes Europa noch nicht aufgegeben. Und wer weiß, vielleicht werde ich es sogar doch noch erleben, dass ich statt eines deutschen Personalausweises einen Europa-Pass im Geldbeutel trage. Ich würde mich freuen!