Carin Müller bloggt ...

Fußball-WM ohne mich!

FIFA World Cup Quatar 2022

Die erste Fußballweltmeisterschaft, die in meinem Leben eine einschneidende Rolle gespielt hat, war das Turnier von 1974. Ich kann mich zwar an nichts erinnern, dafür war ich mit knapp drei Jahren dann doch zu klein, aber kurz vor dem ersten Spiel kam mein jüngerer Bruder zur Welt und kurz nach dem finalen germanischen Triumph im Juli hat mein Großvater einen Herzinfarkt erlitten, an dem er letztlich auch verstarb. Meilensteine, die mein Leben geprägt haben. Danach habe ich jedes weitere Turnier voller Begeisterung verfolgt. Natürlich mit Panini-Heften und viel Herzblut. Doch nun ist die Luft endgültig raus.

Fußball hat die Unschuld verloren

Als Fan ist man ja duldsam und und gerne bereit, großzügig über Dinge hinwegzusehen – oder auch mal beide Augen vor dem Offensichtlichen fest zu verschließen. So war es auch bei mir, denn die WM in Katar ist ja nur die unrühmliche Spitze des Skandaleisbergs des Weltverbandes FIFA. Auch im europäischen Verband UEFA geschehen absurde Dinge, genau wie beim DFB. Selbstverständlich darf man auch bei den Clubs nicht genauer hinsehen, sonst wird einem ganz schlecht.

Trotzdem habe ich genau das getan, denn ich war ein absolut manischer Super-Fan und habe von der 2010er-WM in Südafrika bis zum 2018er-Desaster in Russland (noch so eine absurde Vergabe-Entscheidung) den erfolgreichen Fußball-Blog »11Spielerfrauen« geführt, in dem ich nicht nur über internationale Großereignisse gebloggt habe, sondern auch über die Bundesliga, die europäischen Wettbewerbe und Frauenfußball.

2006 wurde anlässlich des »Sommermärchens« ein neuer Fernseher angeschafft, und ein Sky-Abo gehörte jahrelang zur Pflichtausstattung in diesem Haushalt, senn selbstverständlich musste ich jeden Spieltag gucken. Den Blog mit mehreren tausend Beiträgen gibt es nicht mehr, aber wer mag, kann in meiner kostenlosen Kolumnensammlung »Problemzonen« einige Fußballgeschichten nachlesen.

Kurz, ich war dem runden Leder komplett verfallen!

Doch irgendwann konnte ich nicht mehr wegsehen und weghören und die endlose Reihung von Skandalen ignorieren. Verlogene Gruselgestalten wie Sepp Blatter, Theo Zwanziger, Gianni Infantino. Naive Lichtgestalten wie Franz Beckenbauer, der bei einem Besuch in Katar keine Sklaven gesehen hat und der auch das deutsche Sommermärchen total sauberstrahlend fand. Korrupte Vereinsgranden wie Karl-Heinz Rummenigge, der sich recht offensichtlich mit zwei Rolex-Uhren hat »überzeugen« lassen, dass eine Winter-WM im Wüstenstaat eine bombige Idee sei (nachdem die DFL und andere europäische Ligen zunächst explizit dagegen waren). Von steuerhinterziehenden und verknackten Großfunktionären will ich gar nicht anfangen.

Es widerte mich von Woche zu Woche mehr an, bis ich nach gut vierzig Jahren echter Leidenschaft das Interesse am Sport komplett verloren habe. Wobei das falsch formuliert ist: nicht am Fußball an sich, aber an der geld- und machtgeilen Farce, die daraus geworden ist.

Die Schande von Katar

Dass der Fußball nicht nur seine Unschuld verloren, sondern endgültig seine Seele verkauft hat, sieht man an der Schmierenkomödie (oder eher Tragödie) von Katar. Bis vor einigen Monaten habe ich tatsächlich auf einen Boykott der Nationalmannschaft gehofft. Naiv, ich weiß. Doch wenigstens ein echtes Protestzeichen hätte ich mir gewünscht gegen einen Staat, in dem Frauen von ihren männlichen Familienmitgliedern »geschützt und verwöhnt« werden und in dem Homosexualität ein Verbrechen ist und als Geisteskrankheit angesehen wird. Da ist recht wenig passiert, um es vorsichtig zu formulieren.

Auch keinem der Nationalspieler bereitet das gastgebende Land genug Bauchschmerzen, dass er seine Teilnahme überdacht hätte. Hey, schließlich geht es bei der WM doch nicht um Menschenrechte und Politik, sondern um Sport. Klar. Logisch, was auch sonst ... Haha.

ARD und ZDF haben vor dem ersten Anpfiff engagierte und sehenswerte Dokus gezeigt, in denen die Moderatoren und Experten ihrem Unwohlsein Raum gegeben haben. Das ist löblich und wichtig, aber ich habe die Sorge, dass während des Turniers doch nur wieder der heilige Sport im Fokus steht und Kritik keinen Platz mehr hat.

Vielleicht täusche ich mich - aber ich werde es nicht erfahren, denn ich meine es ernst mit dem Boykott.