Weniger Content, mehr Geschichten

14.4.2025
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Natürlich liebe auch ich Reels.
Verrückte Katzen bringen mich zuverlässig zum Lachen. Mein Herz schmilzt dahin, wenn zuckersüße Baby-Esel bekuschelt werden oder Lämmer und Ziegenkitze wie verrückt über Frühlingswiesen hopsen. Stachelschwein Rico (aus dem Zoo von Cincinnati - einfach mal googeln!) beim Fressen zuzugucken hat eine regelrecht meditative Wirkung auf mich. Diese kleinen Clips sind wie Endorphin-Schüsse – kurz, bunt, süß. Aber kaum sind sie vorbei, sind sie auch schon wieder vergessen.
Was sie mir nicht geben, ist das Gefühl von Verbundenheit.
Ganz anders ist es, wenn mir jemand eine Geschichte erzählt.
So richtig. Persönlich. Ohne Filter. Ohne Algorithmus.
Neulich zum Beispiel hat mir meine Nichte von ihrem freiwilligen sozialen Jahr auf der Neonatologie-Station eines Krankenhauses berichtet. Keine große, dramatische Story. Eher ein Gespräch beim Abendessen. Und doch hallen ihre Worte bis heute in mir nach. »Am schlimmsten sind die Mütter der Väter, die alles besser wissen«, hat sie gesagt – mit diesem halbironischen Unterton, der mich sofort zum Kopfkino eingeladen hat. Oder wie sie über die Frühchen gesprochen hat, ganz sachlich und gleichzeitig zärtlich: »Die meisten sind total zufrieden, wenn sie einfach chillen können.« Zwei Halbsätze, die mehr über sie erzählen als jeder Instagram-Post.
Geschichten brauchen Raum – und Zeit
Wir leben in einer Welt, in der Inhalte im Sekundentakt produziert, konsumiert und gleich wieder verdrängt werden. Aber Geschichten funktionieren anders. Sie wachsen. Sie mäandern. Manchmal schlagen sie unerwartete Haken. Und das ist gut so.
Denn eine gute Geschichte braucht Raum – und Zeit. Zeit zum Reifen. Zeit zum Erzählen. Zeit zum Wirken.
Ein Roman entsteht nicht über Nacht. Ein Gespräch mit Tiefe entwickelt sich nicht zwischen Tür und Angel. Und selbst ein witziger Schwank aus der Jugend wird erst durch die Details lebendig – durch das Augenblinzeln, das Zögern, den Nebensatz, der alles erklärt.
Man kann keine Geschichte hetzen. Nicht, wenn sie etwas bewirken soll.
Zuhören ist (mindestens) so wichtig wie Erzählen
Ich glaube, das ist der große Unterschied zwischen Content und Geschichten: Content will etwas erreichen. Eine Reaktion. Ein Like. Eine Conversion.
Eine Geschichte dagegen möchte etwas hinterlassen. Eine Spur. Ein Gefühl. Eine Verbindung.
Deshalb ist das Zuhören beim Geschichtenerzählen so zentral – vielleicht sogar wichtiger als das Erzählen selbst. Denn der eigentliche Zauber passiert bei den Zuhörenden. In dem Moment, in dem Worte auf Resonanz treffen. Wenn zwischen zwei Menschen etwas entsteht, das größer ist als der bloße Informationsaustausch.
Ich glaube, deshalb liebe ich das Schreiben so sehr. Weil ich da beides bin: Erzählerin und Zuhörerin.
Natürlich könnte man sagen, dass ich als Autorin die Kontrolle über die Geschichte habe – ich erfinde sie schließlich. Ich bin in der Wahrnehmung meiner Leserschaft »Gott« (oder eher die »Göttin«) in meinem kleinen Romanuniversum. Aber in Wahrheit ist es oft genau andersrum: Meine Figuren haben ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte. Ich muss ihnen zuhören, damit ich ihre Geschichte erzählen kann.
Und vielleicht funktioniert das nur, weil ich auch im echten Leben gut zuhöre. Nicht nur dem Gesagten. Sondern auch dem, was nicht gesagt wird. Den kleinen Pausen. Den Nebensätzen. Dem Blick zur Seite. Oft sind es diese unscheinbaren Momente, in denen die wahren Geschichten wohnen.
Erzählen verbindet – über Generationen, Grenzen und Zeiten hinweg
Geschichten sind kein Luxus. Sie sind ein menschliches Grundbedürfnis. In allen Kulturen und zu allen Zeiten saßen Menschen zusammen und erzählten einander Geschichten – am Lagerfeuer, auf dem Marktplatz, im Wohnzimmer. Sie erzählten, um zu erinnern, um zu trösten, um zu erklären, um zu warnen – und ja, auch um zu unterhalten.
Und während wir heute oft allein auf Bildschirme starren, sehnen wir uns gleichzeitig nach echter Verbindung. Nach Geschichten, die uns berühren. Nach Gesprächen, die nicht nach drei Sekunden wieder verdampfen.
Ich wünsche mir mehr davon.
Mehr echte Geschichten.
Mehr Zuhören.
Mehr Austausch.
Weniger Content, mehr Tiefe.
Ein kleiner Impuls zum Schluss
Vielleicht probierst du es heute mal aus: Erzähl eine Geschichte. Keine große, perfekte. Eine kleine. Eine echte. Vielleicht deinem Partner, deiner Freundin, deinem Kind. Oder dir selbst, im Tagebuch. Oder – und das ist fast noch schöner – du hörst jemandem einfach mal wirklich zu. Ohne Handy. Ohne Kommentar. Nur mit offenem Herzen.
Wer weiß, was du dabei erfährst.