Carin Müller bloggt ...

Buchtipp: Das Buch Ana

Was, wenn Jesus Christus eine Frau gehabt hätte

Mein Name ist Ana. Ich war die Frau von Jesus ben Joseph aus Nazareth. Ich nannte ihn Liebster, und er nannte mich lachend Kleiner Donner. Er sagte, wenn ich schliefe, höre er manchmal ein Grollen in mir, ein Geräusch wie ferner Donner über dem Zippori-Tal oder sogar von noch weiter her, jenseits des Jordans. Ich bezweifle nicht, dass er etwas hörte. Mein ganzes Leben lang war ich von Sehnsüchten ergriffen, die des Nachts in mir aufstiegen, um bis zum Morgengrauen zu wehklagen und zu singen. Dass mein Ehemann sich über mich beugte, dort auf unserer dünnen Strohmatte, und meinem Herzen lauschte, sprach für die Güte, die ich am allermeisten an ihm liebte. Was er hörte, war mein Leben, das darum flehte, das Licht der Welt zu erblicken.

Mit diesem Absatz beginnt der Roman »Das Buch Ana« der amerikanischen Autorin Sue Monk Kidd – und er beschreibt besser als jede Zusammenfassung, den Kern der Geschichte.

Hatte Jesus wirklich eine Ehefrau?

In der Bibel wird Jesus als asketischer Prophet und Sohn Gottes dargestellt, der mit seinen (männlichen!) Jüngern das Wort Gottes verkündet und durch seine Güte und seine wundersamen Taten die Menschen für sich und seinen spirituellen Weg einnimmt. Von einer Ehefrau ist keine Rede. Es steht aber nicht explizit, dass er keine hatte.

Tatsache ist, dass sein Leben zwischen seinem zwölften und ungefähr siebenundzwanzigsten Lebensjahr komplett undokumentiert ist. Und Tatsache ist ebenfalls, dass junge jüdische Männer heirateten. Das war so normal, dass es vermutlich eher erwähnenswert gewesen wäre, hätten sie keine Frau gehabt. So ist es also durchaus möglich, vermutlich sogar wahrscheinlich, dass Jesus verheiratet war.

»Wenn Jesus eine Frau hatte, dann wäre sie die Frau, die am deutlichsten zum Schweigen gebracht wurde und die am dringendsten eine Stimme braucht«, sagt Sue Monk Kidd – und gibt ihr diese Stimme.

Wer ist Ana?

Ana ist eine junge Frau aus reichem Haus, die schon früh das unstillbare Bedürfnis nach Wissen verspürt hat. Ziemlich ungewöhnlich, ja beinahe schon undenkbar für Mädchen in dieser Zeit. Sie bringt sich selbst Lesen und Schreiben bei und setzt mit unbeugsamen Willen durch, dass ihr Vater – seinerseits in einflussreicher Position am Hofe Herodes Antipas’ tätig – ihr einen Lehrer zur Seite stellt und sie außerdem Pergament und Papyrus zur Verfügung hat, um selbst zu schreiben. Ihr Ziel ist es, die Geschichten und Schicksale der Frauen aus dem Alten Testament schriftlich zu bewahren, auf dass sie niemals vergessen werden.

Ana nimmt sich heraus, eine Stimme zu haben und anderen Frauen eine Stimme zu verleihen. Damals absolut unerhört – und auch heutzutage in manchen konservativen (Kirchen)Kreisen noch ungewollt. Ihre Tante Yaltha, die lang verschwiegene Schwester ihres Vaters, unterstützt sie dabei auf ganz eigene Art. Doch als Anas Eltern sie mit einem alten, reichen Witwer vermählen wollen, droht die Stimme zu verstummen.

Menschlich und gleichberechtigt

Es kommt natürlich anders und in der nächsten Phase des Romans erleben wir Ana und Jesus als Paar und beobachten ihren Alltag innerhalb seines Familienclans. Die beiden sind von ihren jeweiligen Sehnsüchten und »Bestimmungen« getrieben und gleichzeitig sind sie voller Liebe füreinander und voller Wertschätzung für die »Stimme« des anderen. Sie agieren auf Augenhöhe miteinander und wirken oft gleichberechtigter als viele moderne Paare. Trotzdem sind sie natürlich in den Konventionen ihrer Zeit gefangen und eben nicht frei, zu handeln, wie es ihnen richtig erschiene.

Anas Perspektive auf ihren Mann ist eine zutiefst menschliche, was Jesus nahbarer macht als die göttliche Zuschreibung der Bibel. Er ist ein Mensch mit Ängsten, Sorgen, Hoffnungen. Er ist verletzlich, neugierig und gütig. Und er sieht in Ana das, was ihre geheimsten Sehnsüchte sind: Eine Stimme zu haben, die einen Eindruck hinterlässt. Ein gar nicht mal so kleiner Donner.

Letztlich spielt es keine Rolle, ob diese Geschichte erfunden ist oder wahr. Wahrhaftig wird sie ohnehin erst dann, wenn man daran glaubt. Und die weibliche Perspektive ist für mich derart betörend und kraftvoll, dass sie mir Ex-Katholikin und heimatloser Christin einen neuen, tröstenden Denkansatz gegeben hat. Unbedingte Leseempfehlung!

Sue Monk Kidd: Das Buch Ana, btb Verlag, August 2020, ISBN: 978-3442759033