Wege aus dem Plotloch
4.7.2022
entdecken, entdeckende Autorin, Happy End, Konflikte, Lösungen, Plot, Plotloch, plotten, Plotter, Probleme, Psychologie, zentraler Konflikt
Diese Phase kommt bei jedem einzelnen Roman früher oder später. Frau Autorin hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll in der Geschichte!
Ich bin mir nicht sicher, ob es allen Kolleg*innen so geht – vermutlich den gut organisierten Plottern nicht so sehr –, aber bei mir kommt wirklich in jeder Geschichte der Moment, in dem ich tief im Plotloch sitze und keine Ahnung habe, wie ich und meine Figuren da jemals wieder heil herauskommen sollen.
Besonders häufig ist das der Fall, wenn der Moment kommt, in dem die Story so richtig Fahrt aufnimmt und das letzte große Hindernis vorm Finale aus dem Weg geräumt werden muss. Meist habe ich nämlich keine Ahnung, wie genau dieser Konflikt denn aussehen soll. Ob er von außen auf die Protagonisten einprasselt oder von innen kommt. Ob er sich lange schon andeutet oder ganz plötzlich passiert (beide Varianten haben ihren Reiz). Ich weiß das meist deshalb nicht, weil ich meine Geschichten nicht vorplane. Und so sehr ich es liebe, entdeckende Autorin zu sein, in diesen Momenten möchte ich mich dafür verfluchen. Das bringen einem seriöse Schreibratgeber nämlich in der Regel schon im ersten Kapitel bei, dass man den zentralen Konflikt kennen muss, um einen guten Roman zu schreiben.
Wer anderen eine Grube gräbt ...
Dieser Ratschlag ist sicher sinnvoll und gut gemeint, er funktioniert nur leider nicht für jeden Schreibenden und auch nicht für jede Geschichte. Genau wie ein Konflikt auch nicht für jede Figur gleich schlimm ist. Da sich meine Romane immer sehr intensiv mit den Persönlichkeiten der Figuren befassen, muss ich das Personal ja erst richtig gut kennen, um zu wissen, was sie aus der Bahn werfen kann. Wenn ich geduldig genug bin, manövrieren sie sich sogar oft selbst in ihr Unglück. In diesen Fällen deutet sich dann aber auch schon eine mögliche Lösung an. Häufig bin ich aber nicht geduldig (oder habe eine fiese Deadline), dann muss ich selbst tätig werden und den Hauptfiguren mutwillig Knüppel zwischen die Beine werfen oder ihnen eben eine Grube graben. Blöd nur, wenn ich darin dann selbst gefangen bin.
... fällt selbst hinein.
Das ist unangenehm. Und lästig., weil ich dann nicht so rasch vorankomme, wie ich wollte oder müsste. Aktuelles Beispiel: X und Y stehen an zwei sehr unterschiedlichen Punkten im Leben, merken aber, dass sie füreinander geschaffen sind (Überraschung, es ist eine Liebesgeschichte). Jetzt könnte ich sie entweder übereinander herfallen lassen und müsste dann einen bizarren Konflikt konstruieren, der das Happy End verzögert und der bei mir und der werten Leserschaft mutmaßlich für Augenrollen sorgen würde. Oder aber ich bohre tiefer und lasse sie unangenehme Wahrheiten aussprechen – in der Hoffnung, dass sie das Gegenüber dadurch nachhaltig verstören. Wie im wahren Leben auch, würden sich X und Y natürlich am liebsten für spontanen Sex und heiße Liebesschwüre entscheiden, was ein absolut nachvollziehbarer Impuls ist, denn natürlich sind beide unwiderstehlich und ausgesprochen liebenswert. Allerdings stünde dann die nicht thematisierte Sache zwischen ihnen und würde die lodernde Leidenschaft nach und nach abkühlen oder sogar vergiften. Kennt man ja auch aus dem richtigen Leben.
Was also tun?
Ich muss sie also dazu bringen, sich mir gegenüber so zu öffnen, dass ich ihre verletzlichste Stelle entdecke und ihnen dann gepflegt eins reinwürgen kann. Und ihnen damit die Möglichkeit gebe, über sich hinauszuwachsen und eine bessere Version von sich selbst zu werden. Wer wünscht sich das im wahren Leben nicht auch? Okay, zugegeben, wohl nicht wirklich viele.
Mein Romanpersonal fühlt sich für mich verdammt real an, aber strenggenommen entspringen sie lediglich meiner Fantasie. Das heißt, ich habe die Möglichkeit, mir auch die wunden Punkte auszudenken. Doch das ist oft gar nicht so einfach – und genau daran zermartere ich mir bei Y gerade den Kopf. Ich weiß, dass er ganz anders ist, als er sich gerne nach außen hin gibt und ich weiß auch, warum er dieses Verhalten zeigt. Ich habe aber keine Ahnung, wo das Elend seine Wurzel hat.
Denkst du dir alles selbst aus?
An dieser Stelle kommt eine meiner liebsten (und gleichzeitig verhasstesten) Interviewfragen ins Spiel: »Denkst du dir alles selbst aus oder lässt du dich von konkreten Erlebnissen inspirieren?«
Die Antwort: Meist denke ich mir alles selbst aus, aber wenn ich im Plotloch sitze, greife ich auch panisch nach jedem Strohhalm (natürlich keine aus Plastik, sondern nachhaltige aus Stroh, Glas oder Metall ... nur damit das klar ist). Will heißen in meiner aktuellen Situation sollte jeder vorsichtig sein, was er oder sie mir erzählt, denn es könnte genau das Mosaiksteinchen sein, mit dem ich Y quälen kann.
Ich habe euch hiermit gewarnt!