Carin Müller bloggt ...

Ach, Harry ...

Prince Harry "Spare" - Hörbuch, Audiobook

Müsste ich in einem Wort ausdrücken, was ich nach der Lektüre von Prinz Harrys Biografie »Reserve« empfinde, wäre das: Mitgefühl. Doch glücklicherweise habe ich hier mehr Text zur Verfügung und kann ein wenig ausholen:

Grandiose Welt-Bestseller, saftige Skandalbücher oder hysterisch gefeierte Hype-Romane findet man in meinem Bücherregal so gut wie gar nicht, denn in der Regel interessieren sie mich kein bisschen. Trotzdem habe ich mir das Buch von König Charles’ Zweitgeborenen bereits einen Tag nach der Veröffentlichung besorgt. Das hatte zwei Gründe: 1. lag der Erscheinungstermin höchst ungünstig genau am Tag der eBook-Veröffentlichung von »Highland Happiness – Die Weberei von Kirkby« (also ungünstig für mich, nicht für den Prinzen) und 2. habe ich ja eine kaum zu leugnende Schwäche für das britische Königshaus. Außerdem habe ich mich wahnsinnig über die zahlreichen ätzenden Kommentare in den sozialen Medien geärgert, die zum großen Teil von Menschen stammen, die das Buch NICHT gelesen haben, aber trotzdem Spott, Häme und Hass verbreiteten. Ich hatte also schlicht das Bedürfnis, mitreden zu können.

Harry für die Ohren

Ich habe mich für englische Hörbuch-Fassung entschieden, die vom Herzog von Sussex höchst persönlich eingesprochen wurde, und habe in der Folge bei den nächsten Gassigängen gut fünfzehn Stunden lang die recht angenehme Stimme von Harry im Ohr gehabt. Nun wusste ich, dass er seine Memoiren nicht selbst geschrieben hatte, sondern Hilfe vom berühmten Ghostwriter J.R. Moehringer bekam, der auch schon Andre Agassi und Nike-Gründer Phil Knight seine Hände und sein Autorenhirn geliehen hat. Es war also davon auszugehen, dass es zumindest gut geschrieben sein würde.

Diesbezüglich wurde ich nicht enttäuscht. Auch nicht von Harry, der seine Geschichte wirklich ausgesprochen flüssig und so authentisch vorträgt, als würde er sie nicht etwa ablesen, sondern sie mir – und nur MIR! – in diesem Augenblick erzählen. Das war schon mal toll. Ich bin also sehr gerne mit dem rothaarigen Prinzen spazieren gegangen.

Wenig Neues, viel Schmerz

Er steigt mit einer Art Prolog ein. Eine kurze Szene nach der Beisetzung seines Großvaters Prinz Philip im April 2021. Danach war er mit seinem Vater und seinem Bruder zu einem Spaziergang und einer Aussprache verabredet. Charles und William verspäten sich etwas und Harry nutzt die Zeit zur Reflexion über die letzten Monate. Schließlich kommt es zum Zusammentreffen, und natürlich läuft es nicht gut. Seine Erkenntnis: Vater und Bruder verstehen einfach nicht, was seiner Meinung nach schiefgelaufen ist.

Bereits an dieser Stelle taucht bei vielen Rezensenten der Begriff des ewig unverstandenen Jammer-Prinzen auf, doch ich habe das ganz anders empfunden. Harry jammert nicht, er beklagt nicht einmal die vermeintliche Ungerechtigkeit, sondern fühlt sich aufrichtig verwundert, wie unterschiedlich Menschen ein und dieselbe Situation beurteilen können.

Diese Haltung habe ich im gesamten Buch gespürt. Wenige klar formulierte Vorwürfe, dafür eine enorme Traurigkeit darüber, wie unterschiedlich Menschen Dinge wahrnehmen und ein Erstaunen, wie abweichend sie dann auch handeln. Überhaupt spricht er stets ausgesprochen liebevoll von seiner Familie und zumindest in mir blieb der Eindruck, dass er seine Sippe sehr liebt und sehr vermisst.

Der erste Teil des Buches startet mit dem Tod seiner Mutter. Nun gehöre ich zu den Menschen, die 1997 voller Entsetzen im Fernsehen beobachten konnten, wie die beiden zwölf- und fünfzehnjährigen Brüder mit ausdruckslosen Gesichtern hinter dem Sarg der toten Mutter herlaufen mussten. Ich konnte es damals nicht begreifen, wie man so etwas Kindern, die gerade einen den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatten, antun kann. Heute verstehe ich es immer noch nicht. Milliarden Augen waren auf die verwaisten Prinzen gerichtet, zum Teil voller Mitgefühl, zum Teil sicher auch mit einer gewissen Sensationslust, ob einer der beiden wohl die Fassung verliert.

Harry erzählt, wie er sich in dieser Zeit und in den folgenden Jahren in eine Scheinrealität geflüchtet hatte. Seiner Überzeugung nach war seine Mum schlicht abgetaucht vor dem ganzen Medienrummel, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn und Willie, wie er seinen Bruder nennt, wieder zu sich holen würde. Fast zehn Jahre lang hielt er an dieser Haltung fest. Er hat in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal um Diana geweint – als sie auf der kleinen Insel auf dem Anwesen ihres Bruders beigesetzt wurde. Man muss sicher keine Psychologin sein, um da ein Trauma zu erkennen. Zumindest aber ein vollkommenes Fehlen von gesunder Trauer.

Es folgen, wenig verwunderlich, diverse Skandale und Skandälchen. Drogen, Alkohol. Später der Auftritt in einer Naziuniform bei einer Kostümparty. Harry berichtet davon sehr schonungslos und offen, mal mit einem gewissen Galgenhumor, mal zutiefst beschämt, aber immer höchst selbstkritisch. Auch in diesen Punkten konnte ich kein Jammern erkennen. Wenn überhaupt Hilferufe einer verlorenen Seele, die keiner hören konnte – oder wollte.

In diesem Abschnitt gab es einige Szenen, die interessante Einblicke in die Familiendynamik boten und auch wie es in den königlichen Schlössern aussieht und zugeht. Aber großartige Neuigkeiten erfährt man keine.

Soldaten-Prinz

Der zweite, sehr lange Abschnitt dreht sich vor allem um seine Armeezeit. Für meinen Geschmack war dieser Teil deutlich zu lang, aber ich kann nachvollziehen, warum es Harry wichtig war, diese Phase so deutlich hervorzuheben und prominent auszubreiten. Die Zeit bei den Streitkräften unter dem Oberkommando seiner Großmutter (alleine das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen), hat ihn geprägt wie keine andere. Zum ersten Mal war er nichts Besonderes, sondern einfach nur Harry Wales.

Viele Kritiker beklagen bei diesem Abschnitt die epische Länge (da geh ich mit) und konzentrieren sich ansonsten vor allem auf seine beiden Afghanistan-Einsätze, bei denen er – Überraschung – auch Menschen getötet hat. Ich bin nun wahrlich kein Fan von Kriegsverherrlichung, meiner pazifistischen Natur geht das sogar vollkommen gegen den Strich, aber man muss doch die Kirche im Dorf lassen. Soldat*innen, die in den Kriegseinsatz geschickt werden, haben andere Aufgaben, als traurigen Waisenkindern über die Köpfchen zu streicheln. Natürlich gilt das auch für die damalige Nummer 3 der britischen Thronfolge. Ja, Prinz Harry hat 25 mutmaßliche Talibankämpfer getötet. Hat ihm das Freude bereitet? Eher nicht. Prahlt er darüber? Ganz sicher nicht!

Ich kann mir gut vorstellen, dass man bei so einem Einsatz in einer Art Fokus-Tunnel sein muss. Da gibt es keine Gelegenheit für Graustufen und Hinterfragen der eigenen Moral im Speziellen und der Sinnhaftigkeit des Tötens im Allgemeinen. Damit würde man lediglich die Mission und die Kamerad*innen gefährden. An diesem Dilemma zerbrechen viele Soldat*innen – und genau deswegen hat er es so deutlich ausgesprochen. Das muss man nicht gut finden (mir hat es auch nicht gefallen), aber man muss es akzeptieren – oder sich allgemein gegen jede Art von Krieg stellen.

Lovestory & Medienkrieg

Der dritte Teil seines Buches widmet sich vor allem seiner Beziehung zu Meghan. Die Art und Weise, wie sich die beiden gefunden haben, ist so schön und mitreißend, dass sie auch aus einem meiner Romane stammen könnte. Absolut und im besten Wortsinn märchenhaft. Und wie in jedem guten Märchen gibt es auch in dieser Liebesgeschichte Hürden, die zu überwinden sind.

An dieser Stelle verlassen wir jedoch das Romanhafte – zumindest mein Genre –, denn die Hürden sind von einer derart menschenverachtenden, rassistischen Boshaftigkeit, dass es jedem halbwegs fühlenden Menschen den Atem rauben müsste. Die Schlagzeilen, Zeitungsartikel und Social-Media-Posts sind ja nicht von ihm zur Effekthascherei für das Buch erfunden, sondern für all jene, die eine Suchmaschine bedienen können, ganz einfach nachzuvollziehen.

Prinz Harry hat sein ganzes Leben lang im medialen Fokus verbracht. Er war es gewohnt, könnte man sagen. Er war schlicht dazu geboren, diesen voyeuristischen Missbrauch zu ertragen. »Never complain, never explain«, lautet ja nicht umsonst der Wahlspruch der Royals. »Sich nie beklagen, sich nie erklären.« Das klingt clever, man muss es aber auch aushalten können. Harry konnte es irgendwann nicht mehr – genau wie Meghan. Ich kann das gut nachvollziehen und finde, dass wirklich niemand es verdient, derartig herabwürdigend behandelt zu werden, nur weil er oder sie im öffentlichen Fokus steht. Da werden Menschen zu Objekten degradiert auf eine Weise, wie es sonst nur in Kriegen passiert – was ich auch dort nicht okay finde, siehe oben. Das sind übrigens meine Worte, nicht Harrys, aber ich schätze, er würde mir recht geben.

Geschwisterliebe – Geschwisterhiebe

Ohne jeden Zweifel läuft es zwischen den Brüdern Harry und William derzeit nicht gerade brillant – vielleicht ist das Verhältnis nun auch endgültig zerstört, aber im Grunde unterscheidet sich die Dynamik zwischen den beiden Prinzen kein bisschen von der »normaler« Geschwisterpaare.

Selbst in den heilsten Familien kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Kindern. Das Erstgeborene ist eifersüchtig auf das Zweitgeborene, weil es plötzlich die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern teilen muss. Das Zweitgeborene versucht darauf hin, sein eigenes Profil zu schärfen, sich von der Nummer eins abzusetzen. Indem es besonders aufsässig oder witzig oder sonst wie auffallend ist beispielsweise. Die Asymmetrie zwischen diesen Polen (die noch komplexer werden, wenn es weitere Geschwister gibt – Sandwich-Kids, verschiedene Allianzen etc.) ist kaum zu überwinden und hält auch unter den besten Voraussetzungen ein Leben lang. Selbst wenn man ein wirklich gutes Verhältnis zueinander hat, sich liebt und jeder seinen eigenen Weg gefunden hat, gibt es immer wieder Triggerpunkte, an denen man in alte Muster zurückfällt.

Warum sollte das ausgerechnet bei Harry und William anders sein? Weil sie königlichen Bluts sind? Weil sie dazu geboren wurden, einem höheren Zweck zu dienen? Das ist unsinnig und anmaßend. Es sind und bleiben auch nur Menschen. Menschen jedoch, die unter einem viel größeren Druck stehen, als beispielsweise mein Bruder und ich. Menschen, die nicht frei geboren wurden und keine Chance hatten, wirklich eigene Entscheidungen zu treffen. Ich denke, darüber muss man sich nicht erheben, das kann man nur aus tiefstem Herzen bedauern. Ich jedenfalls möchte mit keinem Mitglied der königlichen Familie tauschen. Nicht einmal für einen Tag und ganz bestimmt für kein Geld der Welt.

Was bleibt?

Vor allem hat mich Harrys Buch traurig gemacht. Es ist keine fröhliche Geschichte. Es ist keine angeberische Heldenstory von einem verwöhnten reichen Kind, das nichts mit sich und der Welt anzufangen weiß. Es ist die Geschichte eines suchenden, verzweifelten, verwundeten Mannes, der – und das nehme ich ihm absolut ab – das tiefe Bedürfnis verspürt hat, seine Sicht der Dinge zu schildern. Das ist meiner Meinung nach sein gutes Recht. Hat er damit das Ansehen des Königshauses beschädigt? Womöglich ein bisschen, ich denke aber, die Royals werden das verkraften. Vielleicht regt es sie in dem ein oder anderen Punkt sogar zum Umdenken an. Schaden würde es ganz sicher nicht, denn es gibt ja inzwischen eine weitere Generation. Es wäre wirklich zu wünschen, dass Williams und Harrys Kinder anders aufwachsen können.

Ich weiß nicht, ob es klug war, dieses Buch zu schreiben. Ich weiß nicht, ob es ihm Frieden bringt. Ich fürchte fast, beides wird nicht der Fall sein. Harry hat zweifellos sehr viel Geld dafür bekommen – und aus dem Stand heraus einen Weltbestseller gelandet. Etwas, von dem ich persönlich nicht einmal zu träumen wage. Doch würde ich tauschen wollen? NIE IM LEBEN!

Niemand von uns wird jemals wissen, was genau abgelaufen ist. Ich finde, wir alle sollten uns mit Urteilen zurückhalten. Diese Menschen sind kein Freiwild. Es sind Menschen wie du und ich. Ich habe Harrys Wahrheit in seinen Zeilen gelesen, und ich habe meine Wahrheit aufgeschrieben – im vollen Bewusstsein, dass andere Lesende (seines Buchs und meines Artikels) zu ganz anderen Schlüssen kommen. Das ist in Ordnung, denn es gibt keine objektive Wahrheit, nur subjektive Varianten. Das gilt aber nicht nur für Königskinder, sondern für uns alle. Damit müssen wir leben.

Zurück zum Buch

Für mich ist »Spare« oder »Reserve« eine sehr gut geschriebene Biografie, in der Hörbuchversion von Harry durchaus auch unterhaltsam, aber unterm Strich vor allem eine ziemlich traurige und, zieht man allen »Pomp and Circumstance« ab, auch schrecklich banale Lebensgeschichte. Habe ich es bereut, mich damit befasst zu haben? Nein. Was bleibt: Mitgefühl.