Carin Müller bloggt ...

Sneak Peek auf die Schmiede

Kapitel 1 "Auf Granit gebissen"

Es sind noch genau sechs Wochen, bis mein neunter großer Kirkby-Roman »Highland Happiness – Die Schmiede von Kirkby« das Licht der Buchwelt erblickt, aber weil ich in den letzten Tagen so viel Freude mit den letzten Korrekturen dieser Geschichte hatte, will ich schon mal Lust auf die Geschichte von Hufschmiedin Charly und Zahnarzt Brodie machen. Die ist offengestanden ziemlich anders geworden als die meisten anderen Kirkby-Geschichten und hat es mir beim Schreiben zwischenzeitlich wirklich verdammt schwer gemacht. Mit dem Ergebnis bin ich aber überglücklich.

Gleich kommt hier also das erste Kapitel mit dem unheilschwangeren Titel »Auf Granit gebissen«. Du kannst es entweder hier auf der Webseite lesen oder dir auch bequem herunterladen (als ePub und als PDF) – es ist nämlich sehr lang.

Und das ist der Klappentext:

Manchmal muss man durchs Feuer gehen, um Licht zu sehen.

Charly MacRaes Leben ist ein einziges Missverständnis. Die Tochter einer Seefahrerdynastie fürchtet sich vorm Meer und liebt das Spiel mit dem Feuer. In Kirkby heuert sie als Hufschmiedin an, obwohl dort alle einen Mann erwarten. Der smarte Zahnarzt Brodie Henderson dagegen scheint immer alles richtig zu machen und nichts dem Zufall oder gar Schicksal zu überlassen.
Gegensätzlicher können zwei Menschen kaum sein, doch als sich ihre Wege immer häufiger kreuzen, stellen Charly und Brodie erstaunt fest, dass wahre Übereinstimmung nicht im Äußeren, sondern im Inneren liegt.

Werden die sprühenden Funken es schaffen, Vorurteile zu verbrennen und eine knisternde Liebe zu entzünden?

Der Roman erscheint als eBook und Taschenbuch mit Klappenbroschur am 22.07.2024 und kann bereits überall vorbestellt werden.

Bis zum 07.07.2024 kann man sich auch ein handsigniertes Taschenbuch-Exemplar sichern, das pünktlich zum Erscheinungstermin ausgeliefert wird. Mit Wunschwidmung von mir und einigen passenden Postkarten als Goodie.

Viel Spaß bei "Auf Granit gebissen"

Kapitel 1 »Auf Granit gebissen«

»Wurzelbehandlung?«, keuchte Marlin Fraser entsetzt und presste dann fest die Zähne zusammen.

»Ich fürchte, das ist alternativlos«, gab Brodie zurück.

»Ich bin wegen Zahnschmerzen gekommen und erfahre jetzt, dass ...« Marlin plusterte sich auf, was in seiner aktuellen halb liegenden Position auf dem Behandlungsstuhl ein bisschen albern wirkte, und Brodie war froh, dass er eine Maske trug, sodass sein widerspenstiger Patient sein Lächeln nicht sehen konnte.

»Zahnschmerzen entstehen ja nicht ohne Grund«, erklärte er ruhig. »Und ich wette, die sind nicht erst heute Morgen aufgetaucht, was?«

»Das Wochenende war die Hölle«, gab Marlin schmallippig zu. »Betty wollte mich schon am Samstag zu dir schicken, aber du warst ja nicht da, und auf die Zahnklinik hatte ich keine Lust. Da haben am Wochenende ja doch nur Studenten Dienst.«

»Es wäre trotzdem eine schlaue Idee gewesen, die dir weitere Schmerzen hätte ersparen können«, entgegnete Brodie und widerstand dem Bedürfnis, sich für seine Abwesenheit zu rechtfertigen. Auch er durfte mal übers Wochenende verreisen. Nicht dass es in Edinburgh besonders erfreulich gewesen war, aber immerhin hatte Emma wieder mit ihm gesprochen und damit ihren fast einjährigen Schweigebann gebrochen. Man musste wohl dankbar für die kleinen Dinge sein, auch wenn Marie keine besondere Hilfe war. Kaum verwunderlich. Doch er verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich lieber wieder auf seinen Patienten.

»So ein paar Schmerzen hauen mich nicht um«, behauptete Marlin, aber besonders glaubwürdig wirkte er nicht.

»Zahnschmerzen sind mit das Gemeinste, was wir Menschen erleiden können«, widersprach Brodie. »Und blöderweise vergehen sie in den seltensten Fällen von allein. Aber glücklicherweise leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert und sind bestens dazu in der Lage, etwas dagegen zu tun. In deinem Fall wäre das eine Wurzelbehandlung.«

»Jeder, der schon mal eine Wurzelbehandlung hatte, sagt, dass es das schlimmste Erlebnis seines Lebens war«, presste Marlin hervor, und Brodie erkannte in den Augen des sonst immer so selbstbewussten und gerne auch großspurigen älteren Mannes blanke Angst.

»Es ist auch keine ganz triviale Angelegenheit, aber ich kann dir versichern, dass ich weiß, was ich tue. Und alle Menschen, die ich bisher auf diese Weise behandelt habe, haben nicht nur überlebt, sondern waren danach auch sehr erleichtert.«

»Was wäre die Alternative?«

»Wir könnten den betreffenden Backenzahn ziehen, aber das würde ich nicht empfehlen. Der Zahn selbst ist ja noch in einem guten Zustand, es ist lediglich der Nerv angegriffen. Wenn wir den Zahn entfernen, müssen wir zunächst mit einer viel größeren Wundfläche zurechtkommen, die höchst anfällig wäre für weitere Infektionen und damit für Schmerzen. Und später stellt sich die Frage nach einem Zahnersatz, denn die Lücke kann ja nicht bleiben. Man müsste ein Implantat einsetzen, was aber frühestens nach ungefähr einem halben Jahr möglich wäre, denn der Kieferknochen muss ja erst wieder Substanz aufbauen. Also alles in allem viel mehr Besuche bei mir und potenziell mehr Schmerzen.«

Marlin war bei der Beschreibung aschfahl geworden, und Brodie nutzte die Gunst der Stunde, um weiterzusprechen.

»Die Wurzelbehandlung dagegen ist vergleichsweise wenig invasiv. Ich gehe von oben in den Zahn hinein, ziehe den Nerv und säubere dann vorsichtig, aber gründlich die Wurzelkanäle. Dann spüle ich die Wurzeln, desinfiziere sie und fülle sie auf. Wenn ich gut gearbeitet habe, wird es komplikationslos ausheilen. In ein paar Monaten setzen wir dann eine Krone drauf, und der Zahn ist so gut wie neu.«

»Und wenn du nicht gut arbeitest?«

»Ich arbeite immer gut, keine Sorge«, sagte Brodie mit ruhiger Stimme. »Das habe ich vielleicht ungeschickt formuliert. Manchmal lassen sich nicht alle Bakterienherde restlos entfernen, und dann kann es nach einiger Zeit erneut zu Schmerzen kommen, und eine weitere Sitzung wird fällig. In rund siebzig Prozent der Fälle reicht aber die Erstbehandlung.«

»Kann ich darüber nachdenken?«, fragte Marlin.

»Natürlich. Aber jeder Tag, den du länger wartest, bedeutet eine Ausweitung der Infektion und mehr Schmerzen. Wenn wir es jetzt gleich machen, hast du heute Nachmittag vergessen, dass du Zahnweh hattest.«

Marlin verzog das Gesicht. »Das würde ich kategorisch ausschließen.«

»Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe das auch hinter mir. Und ich hatte nicht mich als Arzt, sondern musste einem Kollegen vertrauen.«

»Und wie lange wird es dauern? Irgendwann am Mittag oder frühen Nachmittag kommt der neue Hufschmied auf den Hof, da wäre ich gerne dabei.«

»Unter optimalen Bedingungen sind wir in einer guten Stunde fertig.«

»Was wären optimale Bedingungen?«

»Gerade Wurzelkanäle und ein entspannter Patient.« Brodie zog sich die Maske runter aufs Kinn, denn diesmal wollte er, dass Marlin sein zuversichtliches Lächeln auch sah. Er drückte ihm auch leicht den Oberarm, weil manche Menschen auf eine physische Verstärkung besser reagierten als nur auf Worte. »Wir kriegen das hin.«

»Okay.« Marlin gab sich geschlagen. »Wird es sehr wehtun?«

»Du spürst nur ein paar minimale Pikse von der örtlichen Betäubung, ansonsten merkst du gar nichts«, versprach er.

»Sicher?«

»Ganz sicher. Und ich kann gerne Kate rufen, die sehr gut darin ist, Patienten zu beruhigen.«

»Ich dachte, deine Helferin heißt Christine.« Marlin schaute ihn verwirrt an.

»Heißt sie auch, und sie muss mir assistieren. Kate dagegen wäre nur für dich da.«

Marlins Stirnrunzeln wich einem ungläubigen Blick. »Sprichst du etwa von deinem Hund?«

Brodie nickte. »Kate liebt es, sich auf den Patienten zusammenzurollen und sich während der Behandlung von ihnen streicheln zu lassen.«

»Aber ... wir sind hier doch in einer Zahnarztpraxis. Ich meine, du weißt, wie sehr ich Tiere liebe, aber ... ist das nicht unhygienisch?«

»Auch nicht unhygienischer als dein Stallpullover«, gab Brodie grinsend zurück. »Aber keine Sorge, wir decken dich und den Hund ab. Kate ist das gewohnt. Und sie ist der Hit bei Angstpatienten.«

Hinter Marlins kahler Stirn arbeitete es sichtbar. Es war sonnenklar, dass er nicht als Angstpatient bezeichnet werden wollte. Es war aber auch klar, dass ihm gerade der Arsch auf Grundeis ging.

»Ich bin gleich wieder da«, kündigte Brodie an. Er verließ das Behandlungszimmer und lief rasch die Treppe hinunter zum Rezeptionsbereich seiner Praxis, die er sich mit Hausärztin Anna Campbell und Hebamme Martha Millner teilte. Während Anna und Martha ihre Behandlungsräume im Erdgeschoss hatten, mussten seine Patienten in den ersten Stock steigen – oder mit dem Treppenlift hochfahren, auf dem Bürgermeister Collum McDonald bestanden hatte, »um allen Bürgern Kirkbys eine barrierefreie Behandlung zu bieten«.

Tatsächlich war der Lift in dem Jahr, seit Brodie hier praktizierte, kein einziges Mal in Gebrauch gewesen, sondern diente vorwiegend als Schlafplatz für Annas Riesenkater Elvis. Doch heute war von dem Tiger nichts zu sehen. Brodies graue Whippets Kate und Moss dagegen schlummerten aneinandergeschmiegt in ihrem Kuschelkorb in der Teeküche und hoben nicht einmal die Köpfe, als er an der Tür vorbeilief.

»Kannst du den Elf-Uhr-Termin ein bisschen nach hinten schieben?«, bat er Maggie, die Praxismanagerin, die selbst beim größten Ansturm immer die Ruhe selbst war. »Ich muss eine Wurzelbehandlung bei einem Angstpatienten machen, dafür möchte ich mir etwas Zeit lassen.«

»Klar, kein Problem.« Maggie rief im Online-Terminkalender die entsprechenden Daten auf.

»Wollte nicht mein Vater zu dir kommen?«, mischte sich Isla Fraser ein, die gerade mit ihrem dicken Bauch zum Anmeldetresen watschelte und seinen letzten Satz gehört hatte. Kirkbys Sterneköchin erwartete in wenigen Wochen ihr erstes Kind und hatte wohl entweder bei Anna oder bei Martha einen Termin.

»Du weißt, dass ich nicht über meine Patienten sprechen kann«, erwiderte Brodie, doch Maggie hob grinsend einen Daumen. »Hey, die Schweigepflicht gilt auch für dich«, tadelte Brodie sie.

»Ich hab doch nichts gesagt«, behauptete Maggie gut gelaunt, und auch Isla grinste.

»Dad war das ganze Wochenende über unerträglich, weil er solche Schmerzen hatte. Gut, dass er endlich was unternimmt. Soll ich mitkommen und ihm die Hand halten?« Isla schien das Ganze wahnsinnig witzig zu finden.

»Nein, den Job übernimmt Kate«, entgegnete Brodie knapp und verschwand in der Teeküche, wo er die Hündin aus dem Korb hob – sehr zum Missfallen ihres Bruders Moss, der herzzerreißend zu jaulen begann.

»Komm zu mir, mein Schatz, ich tröste dich«, säuselte Maggie in Richtung des traurigen Rüden. Der stelzte daraufhin auf seinen langen, dünnen Beinen aus der Küche, sprang mit einem eleganten Satz auf Maggies ausladenden Schoß und legte seinen schmalen Kopf auf ihre Schulter.

»Gott, ich liebe Kirkby«, stellte Isla fröhlich fest. »Sag meinem Dad, er soll tapfer bleiben, damit er bald seinen neuen Enkel in Empfang nehmen kann. Und keine Sorge, ich verrate niemandem, dass er bei dir als Angstpatient gilt.« Letzteres rief sie so laut, dass es jeder in den Wartezimmern hören musste – und zweifellos auch Marlin selbst.

Brodie unterdrückte ein Augenrollen und ging wortlos mit Kate auf dem Arm nach oben.

»Da bin ich wieder«, verkündete er und legte Kate ohne weitere Diskussionen auf Marlins Schoß ab. Dort kringelte sie sich umstandslos so hin, dass ihr Kopf auf Marlins Bauch lag, und warf dem schmerzgeplagten Patienten einen seelenvollen Blick aus ihren dunklen Augen zu.

»Gutes Mädchen«, lobte Brodie leise, und Marlin schien sich schlagartig zu entspannen.

»Hab ich da eben meine Tochter gehört?«, erkundigte sich Marlin, während er bereits das seidenweiche dunkelgraue Fell des Hundes streichelte.

»Möglich«, antwortete Brodie ausweichend. »Aber darüber sollten wir uns jetzt keine Gedanken machen. Christine hat schon alles vorbereitet, wir können also gleich loslegen.« Er ging zum Waschbecken und wusch sich gründlich die Hände. Dann griff er sich einen frischen OP-Umhang aus dem Regal, schlüpfte hinein und zog sich eine neue Maske und Handschuhe an.

»Bist du bereit?«, erkundigte er sich bei Marlin, der nur nickte.

Christine breitete ein steriles Laken über Patient und Hund aus und befestigte es mit einem Kettchen, das sie Marlin um den Hals legte.
Brodie fuhr den Stuhl ein ganzes Stück hoch und brachte Marlin weiter in die Horizontale, damit er einen guten Zugang zum lädierten Backenzahn bekam. Dann nahm er die Spritze mit der superfeinen Nadel und bat seinen Patienten, den Mund zu öffnen.


Eine gute Stunde später war alles erledigt. »Die Betäubung wird noch ein Weilchen anhalten«, schärfte er Marlin ein. »In der nächsten Stunde solltest du nichts essen und auch danach noch vorsichtig sein, nicht dass du dich versehentlich selbst verletzt. Spätestens heute Abend müsstest du wieder normal essen können. Ich gebe dir ein paar starke Schmerztabletten mit, aber normalerweise solltest du mit ein, zwei Ibuprofen gut versorgt sein. Wenn nicht, ruf mich an und komm vorbei, aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir alles gut erwischt haben.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, nuschelte Marlin und richtete sich vorsichtig auf, um Kate nicht zu erschrecken. »Danke, du Gute«, lobte er die Hündin und streichelte ihr noch einmal über den Kopf.

»Katie, ab!«, befahl Brodie. »Hol dir bei Maggie deine Belohnung.« Der Hund sprang elegant vom Behandlungsstuhl und warf Christine einen auffordernden Blick zu, die prompt gehorsam die Tür öffnete.

»Ungewöhnliche Methoden«, befand Marlin, immer noch mit schwerer Zunge.

»Es wirkt. Wusstest du, dass man weniger Schmerzmittel braucht, wenn ein Tier den Patienten beruhigt? Bei einem hohen Angstlevel muss man sonst viel größere Dosen spritzen, was wiederum dazu führt, dass die Betäubung länger anhält und es manchmal zu unschönen Folgeverletzungen kommt. Diese Sorge müssen wir uns wohl nicht machen. Wie gesagt, erst mal nichts essen und dann vielleicht nur weiche Sachen oder eine Suppe. Wenn du keine Beschwerden hast, sehen wir uns nächste Woche zur Kontrolle, ansonsten natürlich jederzeit früher.«

»Ich hab’s kapiert. Danke, Doc.« Marlin betastete vorsichtig seine Wange, die immer noch geschwollen war. Doch Brodie war optimistisch, dass sich das bald legen würde.

»Hab einen guten Tag, Marlin«, verabschiedete er sich und reichte ihm die Hand. »Lass dich nicht unterkriegen.«

~~~~~~

Es war ein kalter, aber trockener Märznachmittag, als Charly am Westufer des Loch Ness entlang in Richtung Norden zuckelte. Von dem milden Frühlingswetter, das sie noch vor zwei Wochen in Andalusien erlebt hatte, war hier in den rauen Highlands nichts zu spüren. Um diese Jahreszeit war hierzulande jederzeit noch ausgedehnter Schneefall drin. Doch im Augenblick sah es nicht nach Niederschlag aus.
Das Wetter war in ihren Überlegungen momentan allerdings zweitrangig. Vielmehr war sie gespannt, was sie gleich an ihrem neuen Arbeitsplatz erwarten würde. Spannend und herausfordernd dürfte es auf jeden Fall werden. Rupert Fraser war nicht nur ein bekannter Züchter von Clydesdales, der alten schottischen Kaltblutrasse, sondern hatte über die Landesgrenzen hinaus einen einzigartigen Ruf als Pferdetherapeut und -trainer. Zusammen mit seiner Tochter Hailey betreute er jedes Jahr mehrere Dutzend Pferde, die mit physischen und/oder psychischen Problemen in das abgelegene Reitsport- und Therapiezentrum kamen.

Vater und Tochter eilte der Ruf voraus, dass sie beinahe jedes Tier wieder fit bekamen. Die letzte Erfolgsgeschichte war die von Cameron Sinclairs Wunderspringpferd Artemis, das sich vor knapp drei Jahren von einem Tag auf den anderen geweigert hatte, auf einem Reitplatz über Hindernisse zu springen. Die Behandlung hatte so ausgesehen, dass Artemis gedeckt wurde und ein Fohlen bekam. Gut zwei Jahre hatte sie fast ohne Training auf der Weide verbracht, doch letztes Jahr im Dezember war sie von ihrem Reiter zum ersten Mal wieder bei einem internationalen Turnier vorgestellt worden und hatte aus dem Stand heraus einen sensationellen zweiten Platz erzielt.

Charly fand solche ganzheitlichen Ansätze sehr spannend – auch weil sie im Lauf ihrer Berufstätigkeit schon sehr oft ganz anderes erlebt hatte. Da war es häufig nur darum gegangen, ein Tier in Form zu spritzen, um es teuer verkaufen zu können. In ihrem Fall war zwar lediglich ein spezieller orthopädischer Beschlag gefordert, der den Tieren einen schwungvolleren oder sichereren Tritt verleihen sollte, aber auch das hatte ihr oft genug Kopfschmerzen bereitet, wenn es vor allem kosmetische Wirkung haben sollte. Möglich war da vieles, doch mit ihrem Verständnis von Tierwohl vertrug sich das ganz und gar nicht. Daher war sie vielfach angeeckt und hatte oft genug ihre Stelle verloren, weil sie sich weigerte, reine Schönheitsbehandlungen anzuwenden statt therapeutische.

Charly hatte gehört, dass Rupert Fraser einer jener Menschen war, die durch eine simple Berührung herausfanden, wo bei einem Tier das Problem lag. Sie hatte keine Ahnung, ob so etwas wirklich möglich war, empfand aber großen Respekt vor derartigem Talent. Sie selbst musste mehrere Sinne bemühen: Zuerst schaute sie sich immer das Gangbild ihrer vierbeinigen Kunden an. Das verschaffte ihr schon eine ziemlich präzise Vorstellung davon, ob das Tier Unterstützung brauchte oder nicht. Danach tastete sie das ganze Pferd mit ihren Händen ab – nicht nur an den Beinen, sondern auch an Rücken, Kruppe, Hals und Schultern. Überall dort, wo große Muskeln saßen. Verspannungen an diesen Stellen gaben ihr ebenfalls Hinweise darauf, wie es um den Bewegungsapparat des jeweiligen Tiers bestellt war. Genauso wichtig war die Hufbeschaffenheit. Was sie über die Vorgeschichte hörte, empfand sie selbst dagegen fast als zweitrangig, denn das Tier »sprach« viel präziser zu ihr als seine Halter. Und schließlich kam es auch immer noch darauf an, welche Aufgaben das Pferd zu meistern hatte.

Sobald sie diese Variablen im Kopf hatte, sagten die ihr ganz genau, wie viel sie von welchem Huf wegschneiden und abraspeln sollte und wie jedes Eisen aussehen musste. Dass sie scheinbar intuitiv arbeitete, hatte ihr ebenfalls einen gewissen Ruf eingebracht und für großartige Referenzen gesorgt – jedenfalls von den Arbeitgebern, denen das Wohl der Pferde genauso am Herzen lag wie ihr.

Die letzten vier Jahre über hatte sie in einem großen Dressurstall in Andalusien gearbeitet und dort wundervolle Tiere und Menschen kennengelernt. Doch in letzter Zeit hatte sie immer häufiger ein diffuses Heimweh verspürt, etwas, das sie sich niemals hatte vorstellen können, als sie vor zwanzig Jahren mit zarten siebzehn für ein Praktikum nach Kentucky geflogen und dort für die nächsten acht Jahre geblieben war. Gefolgt waren Aufenthalte in Argentinien, in zwei arabischen Emiraten, in Frankreich und zuletzt in Spanien.

Heimweh – sie hatte lange gebraucht, um überhaupt zu begreifen, dass ihre seltsame Melancholie genau das war. Die Sehnsucht nach ihren Wurzeln. Wobei, ganz stimmte das nicht. Ihre Familie war seit vielen Generationen in Oban an der schottischen Westküste beziehungsweise auf der Isle of Mull beheimatet, und alle, wirklich restlos alle Mitglieder ihrer Sippe waren der Seefahrt verbunden. Als Fischer, als Fährkapitäne, als Meeresbiologen, als Taucher oder Walbeobachter. Es schüttelte sie, wenn sie nur daran dachte. Wasser war einfach nicht ihr Element. Sie hatte sich schon immer zum Feuer hingezogen gefühlt.

Sie liebte ihre Familie – ihre Eltern, ihre Geschwister, die Tanten und Onkel und die zahllosen Cousins und Cousinen –, doch sie hatten sich einfach nichts zu sagen. Das war während der letzten Tage, die sie zu Hause in Oban verbracht hatte, wieder mehr als deutlich geworden. Wenn Charly über Pferde redete und ihre Geschwister mit der gleichen Eindringlichkeit über Wale, Delfine und Robben, dann benutzten sie zwar die gleichen Worte, aber vollkommen fremde Sprachen.
Nun, in Kirkby würde das anders sein, davon war sie überzeugt. Sie hatte inzwischen Drumnadrochit erreicht und bog nach links ab. Jetzt waren es nur noch wenige Kilometer bis zu ihrem Ziel, und nach allem, was sie vor ihrer Bewerbung herausgefunden hatte, sprach man dort eindeutig Pferd und nicht Wal.

Als Charly einen Hügelkamm erreichte, erspähte sie über Bäume hinweg zunächst den Kirchturm von Kirkby und ein großes Schloss oder Herrenhaus. Nach der nächsten Kurve hatte sie den Wald hinter sich gelassen und sah das ganze Dorf vor sich. In diesem Moment breitete sich ein warmes Gefühl in ihrem Magen aus und verdrängte die Nervosität, die sie während der gesamten gut zweistündigen Fahrt von Oban hierher verspürt hatte. Das hier würde ihr Zuhause werden, da war sie sich ganz sicher.

Als sie kurz darauf mit ihrem prähistorischen, aber zuverlässigen Range Rover auf den Parkplatz des wirklich mehr als großzügigen Reitsportzentrums fuhr, verstärkte sich das Gefühl noch weiter. Das hier war ihre Welt. Sie war an etlichen Koppeln vorbeigefahren, auf denen die imposanten Clydesdales grasten, und konnte die Vorfreude auf die kommenden Herausforderungen kaum bremsen. Mit solchen Kolossen hatte sie noch nie zu tun gehabt, doch alles, was sie über diese Pferde wusste, gefiel ihr. Außerdem würde sie sich wohl zum Großteil auch um die Gästepferde kümmern müssen, die spezielle Bedürfnisse hatten.
Rupert Fraser hatte beim Bewerbungsgespräch, das über Zoom stattgefunden hatte, gesagt, dass sein Bruder Marlin als Schmied künftig etwas kürzertreten, sich aber nicht vollständig zurückziehen wollte. Das klang in Charlys Ohren nach einer guten Arbeitsteilung, und sie freute sich darauf, sich von dem erfahrenen Kollegen noch den ein oder anderen Trick abschauen zu können.

Sie stieg aus ihrem Wagen und sah sich um. Auf einem nahe gelegenen Reitplatz fand gerade eine Kinderreitstunde statt, auf einem anderen, etwas weiter entfernten übten zwei Frauen mit ihren Pferden Dressurlektionen. Die Luft war kühl, und doch meinte sie, einen Hauch Frühling erschnuppern zu können. Und über allem lag der unverkennbare, vertraute Duft nach Pferd. In ihrem Hänger rumorte es. Penny hatte keine Lust mehr auf ihr rollendes Quartier, und Charly konnte es ihr nicht verdenken. Nach der endlos langen Reise von Andalusien nach Schottland und den paar Tagen im Garten von Charlys Eltern sehnte sich auch die Eselin zweifellos nach Normalität und Freiheit.

»Ruhig, Penny. Halt noch ein bisschen durch, dann lass ich dich raus«, raunte Charly ihrer treuesten Gefährtin zu.

»Kann ich helfen?« Vor ihr hatte sich wie aus dem Nichts eine kurvige rotblonde Frau in Reiterkluft materialisiert und strahlte sie freundlich an.

»Hailey Fraser?«, fragte Charly, die sich sicher war, ihr Gegenüber von diversen Fotos auf der Webseite wiedererkannt zu haben.

»Die bin ich.«

»Cool. Ich bin Charly MacRae.« Sie streckte Hailey die Hand hin und erwartete eine erfreute Begrüßung. Stattdessen schien das Lächeln auf dem Gesicht ihrer zukünftigen Chefin in sich zusammenzufallen.

»Die neue Schmiedin«, fügte Charly noch hinzu, weil offenbar eine Erklärung notwendig war. »Dein Vater und dein Onkel erwarten mich.«

»Heilige Scheiße«, murmelte Hailey und fing dann haltlos an zu lachen. Sie lachte so heftig, dass ihr die Tränen aus den Augen liefen.

»Ähm?« Charly wusste nicht, was sie von dieser Show halten sollte. So hatte sie sich ihren ersten Auftritt in Kirkby nicht vorgestellt. Das warme Gefühl in ihrer Magengrube verflüchtigte sich schlagartig und machte feuchter Kälte Platz.

In diesem Moment stieß Penny ein markerschütterndes »Iah« aus, das einen Moment später von einer weit entfernten Koppel beantwortet wurde.

»Du hast da einen Esel drin?«, fragte Hailey ungläubig, als sie genug gelacht hatte.

»Ist das ein Problem?« Charly hatte angekündigt, dass sie in vierbeiniger Begleitung anreisen würde, und Rupert hatte ihr versichert, das sei in Ordnung.

»Der Esel dürfte das geringste deiner Probleme sein«, gab Hailey zurück und schien mit dem nächsten Lachflash zu kämpfen.

Charly hatte keine Ahnung, wie sie diese mehr als seltsame Begrüßung finden sollte. Ihre riesige Vorfreude war jedoch deutlichem Unbehagen gewichen. Aber sie straffte die Schultern. Wenn das hier nichts wurde, könnte sie jederzeit woanders eine Anstellung finden oder sich endgültig selbstständig machen. Bei ihrer Expertise und der zwanzigjährigen Erfahrung sollte das kein Problem sein. Ein Rückschlag, mehr war das hier nicht. »Dann mach ich mich wohl mal wieder auf den Weg«, sagte sie zu Hailey, die immer noch damit rang, ihre Gesichtszüge in den Griff zu bekommen.

»Was?«, rief Hailey erschrocken. »Auf gar keinen Fall. Bitte, es tut mir leid, dass ich so ... ähm ... reagiert habe ...«

»Unprofessionell?«, half Charly aus. Sie war sich nach allem, was sie über Hailey Fraser herausgefunden hatte, sicher gewesen, dass sie mit der Juniorchefin bestens zurechtkommen würde, doch das war wohl ein Irrtum gewesen.

»Ja. Total unprofessionell«, gab Hailey zu und klang aufrichtig zerknirscht. »Entschuldige bitte. Ich freu mich total, dass du hier bist. Dein Ruf eilt dir ja weit voraus, und Onkel Marlin ist zwar wirklich gut, aber eher kein ... ähm ... Und außerdem will er langsam kürzertreten.« Wieder schien sie ein Kichern unterdrücken zu müssen, doch diesmal schaffte sie es besser. »Wir haben hier einige sehr herausfordernde Fälle, und du scheinst ... die richtige ... ähm ... Person dafür zu sein.«

»Davon bin ich bis eben auch ausgegangen«, entgegnete Charly reserviert und zuckte leicht zusammen, als Penny mit voller Wucht gegen die Hängerwand auskeilte. Das kannte sie von ihrer sonst so sanftmütigen Eseldame nicht.

»Da hat wohl jemand einen Lagerkoller«, stellte Hailey fest, und diesmal war ihr Lächeln ganz warmherzig. »Sollen wir ihn retten?«

»Sie. Penny«, korrigierte Charly und fügte hinzu: »Und ja, das wäre schön. Ich glaube, sie hat langsam die Nase voll von dem Hänger.« Sie öffnete die Heckklappe und schlüpfte rasch zu dem aufgeregten Tier hinein. Sofort spitzte Penny wieder fröhlich die Ohren und ließ sich ganz ohne Hampelei aus dem Anhänger führen. Das Abteil im Inneren war eigentlich für zwei große Pferde vorgesehen, aber die kleine graue Zwergeselin teilte sich ihr Fahrquartier mit Charlys Werkzeugen.

»Du bist ja eine Süße«, stellte Hailey fest und ließ Penny an ihren Händen schnuppern, ehe sie ihr mit sichtlich geübten Griffen den Mähnenkamm kraulte, was die Eselin schlagartig fast schon ekstatisch die Augen verdrehen ließ.

»Das ist sie wirklich. Und du scheinst Wunderfinger zu haben.« Charly merkte, wie ihre Vorbehalte gegenüber Hailey wieder etwas schwanden. Wer so liebevoll mit Tieren umging, konnte kein ganz schlechter Mensch sein.

»Sollen wir mal zur Schmiedescheune rüberlaufen?«, schlug Hailey vor. »Penny kann mitkommen, oder wir stellen sie in einen leeren Paddock.«

»Sie will sicher lieber mitkommen«, erwiderte Charly, die ihr neugieriges Mädchen kannte. Penny liebte nichts mehr, als in ihrer Nähe zu sein und alles ganz genau in Augenschein zu nehmen.

Hailey nickte und marschierte los. »Das hier sind unsere Außenreitplätze, vorwiegend für Unterricht und zur Nutzung durch unsere Mieter«, erklärte sie. »Das hier ist der große Hauptstall. Wir haben noch einen Gästestall und einen Offenstall mit riesiger Koppel, der vor allem von unseren Ponys, den robusten Freizeitpferden und einigen unserer älteren Clydesdales das ganze Jahr über bewohnt wird. Aber alle Tiere haben jeden Tag ausgedehnte Weidezeit, und ich überlege schon eine Weile, ob wir unseren Hauptstall in einen großen Laufstall umbauen sollten, in dem die Tiere nicht in einzelnen Boxen stehen, sondern in einem artgerechten Sozialverband leben. Aber mein Vater und viele unserer Mieter sehen das skeptisch.« Ihr entfuhr ein kleiner Seufzer.
»Für die Tiere wäre es bestimmt schöner, aber für die Halter ist es natürlich gewöhnungsbedürftig.«

Charly erwärmte sich immer mehr für Hailey. Sie hatte selbst auf tollen Anlagen gearbeitet, aber restlos überall wurden die Pferde in Einzelboxen gehalten. Selbst wenn diese groß und luxuriös waren, entsprach das einfach nicht den Bedürfnissen der hochsozialen Herdentiere. Sie musste zugeben, dass sie das bis vor Kurzem selbst nie hinterfragt hatte, bis sie auf eine tolle Dokumentation von einer Norwegerin gestoßen war, die ihren Stall radikal umgebaut und umorganisiert hatte. Das war ein echter Augenöffner gewesen.

»Es reden sich alle auf Tradition raus«, ereiferte sich Hailey. »Dabei ist es eine vergleichsweise neue Entwicklung, dass Pferde einzeln gehalten werden. Andere argumentieren mit Sicherheit. Und ja, ich würde jetzt auch kein nervöses verletztes Vollblut einfach so mit unseren Clydesdales in einem Laufstall unterbringen, aber unter Tieren, die sich ohnehin schon lange kennen ...« Sie winkte ab. »Darüber will ich mich gerade nicht aufregen, denn dieses Problem kriege ich so schnell nicht gelöst. Aber sobald ich hier endgültig das Sagen habe ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, doch das war auch nicht nötig.

»Man kann ja mal experimentieren, die Tiere einige Zeit in eine Halle stellen und beobachten, was passiert«, schlug Charly vor.

»Schöne Idee.« Hailey blickte überrascht zu ihr herüber. »Allerdings sind unsere beiden Hallen immer gut gebucht. Das Wetter ist hier halt gerne mal sehr schottisch.« Sie grinste. »Aber ich krieg das schon hin. Früher oder später. Apropos Hallen: Das hier ist die Halle, die wir vorwiegend für die Gastpferde nutzen, also die Tiere, die wegen Verletzungen oder Verhaltensauffälligkeiten zu uns kommen und mit denen wir geschützter trainieren. Wir haben für diese Fälle auch ein Dressurviereck, einen Springparcours und sogar eine kurze Rennstrecke mit Startboxen wie auf der Rennbahn.«

»Sehr beeindruckend«, befand Charly und meinte es auch so. Sie hatte von all diesen Dingen zwar auch schon auf der Webseite gelesen, aber sie fand es noch viel spannender, von der Betreiberin persönlich davon zu hören.

»Hm.« Hailey zuckte mit den Schultern. »Es ist das, was die Kunden erwarten. Wenn es nach mir ginge, könnte ich gut darauf verzichten, traumatisierte Rennpferde wegen ihrer Angst vor der Startanlage zu therapieren.«

»Es ist leider nicht alles schön, was mit dem Reitsport zusammenhängt«, sagte Charly leise. Sie selbst hatte da reichlich Erfahrung sammeln müssen. Besonders schlimm wurde es, wenn es um viel Geld ging. Doch diese Kommentare sparte sie sich.

»So, hier wären wir.« Sie waren einen großen Bogen gelaufen und letztlich an einem Gebäude angekommen, das zwischen Haupt- und Gästestall untergebracht war.

Charly nahm an, dass eine Hälfte davon ein Futter- oder Gerätelager war. Oder womöglich eine Remise für Kutschen, die es hier zweifellos auch gab. Doch sie hatte vor allem Augen für die Schmiede, die mit einem Innen- und einem Außenbereich zum Beschlagen aufwartete. Und mit einem Werkraum, der all ihre Träume wahr werden ließ. Dominiert wurde dieser Raum von einer großen, kohlebefeuerten Esse in der Mitte. In den raumhohen Regalen lagerten Eisenrohlinge in allen Größen und außerdem diverse Spezialbeschläge aus Gummi und Kunststoff. Sie erspähte eine Kollektion aus Raspeln in jeder Körnung und stellte fest, dass die Werkzeuge zwar deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen, aber allesamt tipptopp gesäubert waren. Genau, wie es sein sollte.

»Wow, das ist wirklich beeindruckend«, lobte sie. »Und eine kleine gasbefeuerte Esse gibt es auch.« Das war praktisch, wenn man zwischendurch nur ein Pferd behandeln musste und es sich nicht lohnte, die große Kohleesse in Betrieb zu nehmen. Wobei bei einem Betrieb dieser Größe sicher kaum ein Tag verging, an dem nicht mehrere Pferde zu behandeln waren.

»Gute Ausstattung ist das eine, gutes Know-how ist das andere«, sagte Hailey mit einem Schulterzucken. »Nicht dass mein Onkel Marlin nicht superkompetent wäre«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Ganz und gar nicht, aber ...« Sie lief rot an und beendete den Satz lieber nicht. »Ich schreib meinem Vater, dass du da bist.« Sie zog ihr Handy aus der Brusttasche ihrer Reitweste und tippte rasch ein paar Worte.

»Know-how allein hilft aber auch nicht. Es ist schon gut, wenn auch optimales Material zur Verfügung steht«, entgegnete Charly und sah sich weiter um. Es juckte sie in den Fingern, die Schubläden zu öffnen und zu erforschen, was für Schätze sich wohl darin befanden. Vermutlich Nägel, Kunsthorn, das man bei Hufverletzungen und -krankheiten verwendete, und zahllose andere nützliche Dinge. Ihre mobile Notfall-Ausstattung im Hänger brauchte sie wohl eindeutig nicht.

»Kommen auch Pferdebesitzer aus der Umgebung hierher, oder kümmern wir ... kümmert man sich hier nur um die im Betrieb untergestellten Tiere?«

»Du kannst ruhig ›wir‹ sagen«, meinte Hailey lächelnd. »Du hast ja bereits einen festen Arbeitsvertrag, wenn ich es richtig verstanden habe. Also ja, wir kümmern uns hier ausschließlich um unsere Tiere, aber vor allem deshalb, weil Marlin nicht mehr bewältigen konnte. Vielleicht ändert sich das ja in Zukunft. In Notfällen, wenn der eigentliche Schmied nicht kann, springen wir aber auch jetzt schon immer mal wieder ein. Und nach dem, was ich auf die Schnelle gesehen habe, bist du ja auch für den mobilen Einsatz vorbereitet.«

»Allerdings wirklich nur für akute Notfälle. Ich habe lediglich eine Basisausstattung im Hänger. Das hier ist echt das Paradies.«

»Nach allem, was in deinem Lebenslauf steht, hast du in lauter hochklassigen Ställen gearbeitet. Da müsste es doch ganz ähnlich sein, oder?«

»Schön wär’s.« Charly seufzte. »Den meisten ist es zwar wichtig, dass die Pferde gesunde Hufe und einen optimalen Beschlag haben, doch so viel Platz für eine richtige Schmiede stellt fast niemand zur Verfügung. Den könnte man ja für mehrere teuer bezahlte Boxen oder so verwenden.« Charly machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich finde es wichtig, dass sich nicht nur die Pferde wohlfühlen, sondern auch ...«

»Wer sind Sie?«, donnerte eine Männerstimme. »Und wem gehört der Esel, der da den Türrahmen zernagt?« Charly betrachtete den bärtigen, glatzköpfigen älteren Mann, der einen wilden Blick und eine geschwollene Wange hatte. Wenn sie nicht alles täuschte, war das Marlin Fraser – der aktuelle Hufschmied.

»Ich bin Charly MacRae«, stellte sie sich vor. »Und das da draußen ist mein Esel Penny.« Sie stieß einen kleinen Pfiff aus, und Penny drängelte sich an dem Mann vorbei und eilte an Charlys Seite. »Böses Mädchen, du darfst nichts annagen«, schimpfte sie leise mit dem Tier.

Marlin öffnete den Mund und schloss ihn wieder – offenbar fehlten ihm die Worte. Hailey grinste schon wieder und schien sich köstlich zu amüsieren.

»Charly, darf ich dir meinen Onkel und deinen Vorgänger Marlin vorstellen? Seines Zeichens Hufschmied, selbst ernannter Hundeflüsterer, Hobbyschäfer, ehemaliger Popstar und Angstpatient beim Zahnarzt.« Ihre blauen Augen funkelten so vergnügt, als wollten sie gleich Funken sprühen.

Marlins Blick wurde dagegen noch mörderischer, doch diesmal galt sein Todesstarren seiner Nichte, und Charly fragte sich, mit welchem Teil der Vorstellung sich Hailey das verdient hatte. »Sie ist eine Frau!«, brachte er empört hervor. War das die Neuigkeit, die ihn so aus der Fassung gebracht hatte? Dass Charly eine Frau war? Was im Übrigen nicht zu übersehen war – nicht mal für einen Hufschmied, Hundeflüsterer, Schäfer, Popstar und Angstpatienten.

»Ist mir auch aufgefallen«, erwiderte Hailey belustigt.

»Wer ist eine Frau?«, hörte Charly von draußen eine weitere Männerstimme, und einen Moment später kam Rupert Fraser in die Schmiede und stellte sich neben seinen Bruder. Er war fast einen Kopf größer und mindestens zweimal so schwer. Außerdem hatte er viel mehr Haare – auf dem Kopf wie am Kinn –, grauweiß mit einigen roten Strähnen. Die Augenpartie war jedoch identisch, nur dass Ruperts blaugraue Augen fragend und nicht tödlich strahlten.

»Der Schmied ist eine Frau«, antwortete Marlin und deutete mit einem Finger auf Charly, was sie als ziemlich unhöflich empfand. »Eine winzige Frau mit blauen Haaren und Nasenpiercing«, stellte er das Offensichtliche fest.

»Sie sind Charly MacRae?« Nun hing auch Ruperts Mund offen.

»Ja, und offen gestanden verstehe ich nicht, warum das eine Überraschung ist«, brachte Charly hervor, der die ganze Situation immer abstruser vorkam. »Wir haben uns doch bei dem Zoom-Interview gesehen.«

»Das hat nicht funktioniert«, gab Rupert zähneknirschend zu, und Charly bemerkte, dass sich Hailey im Hintergrund in lautlosen Lachkrämpfen wand. Offenbar fand sie die Situation wirklich wahnsinnig witzig.

»Ich konnte Sie gut sehen«, entgegnete Charly. »Warum haben Sie denn nichts gesagt?«

»Weil er sich nicht als Technik-Idiot outen wollte«, grunzte Marlin.

»Du ja auch nicht«, fauchte ihn Rupert an. »Außerdem war das Interview doch ohnehin nur Formsache. Wir hatten uns ja schon aufgrund des Lebenslaufs und der Empfehlungen entschieden. Und natürlich haben wir uns im Vorfeld bei den angegebenen Referenzen erkundigt.«

»Aber Dad, dir muss doch schon die Stimme aufgefallen sein«, warf Hailey ein und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Ich meine, Charly hat ja kein rauchiges Whisky-Organ, das man mit dem eines Mannes verwechseln könnte.«

»Ich dachte halt, dass der Ton ebenfalls schlecht wäre.« Rupert kratzte sich verlegen das bärtige Kinn. »Aber Sie sind eindeutig eine Frau«, wandte er sich in anklagendem Tonfall an Charly.

»Ich habe nie etwas anderes behauptet.« Charly kraulte unbewusst Pennys Hals. Die Eselin hatte offenbar mitbekommen, dass moralische Unterstützung dringend nötig war, und schmiegte sich an ihre Zweibeinerin. »Und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum das ein Problem sein soll.« Das stimmte nicht, natürlich wusste sie, dass viele Menschen – Männer! – ein Problem damit hatten, wenn eine zierliche Frau diesen archaischen Beruf ausübte, der doch eindeutig der Testosteron-Fraktion vorherbestimmt war. Doch letztlich hatte sie bislang alle Skeptiker überzeugen können.

»Haben Sie schon mal Clydesdales beschlagen?«, erkundigte sich nun Marlin.

»Nein.«

»Nun, da haben Sie’s! Das ist auch schon die Antwort auf die Frage. Ich sehe beim besten Willen nicht, wie Sie mit achthundert bis tausend Kilo Körpermasse klarkommen wollen.« Marlin schien mit dieser prächtigen Ausrede sehr zufrieden zu sein, und auch Rupert nickte vehement, während Hailey die Augen verdrehte und schon zu einer Replik ansetzen wollte.

Doch Charly war schneller. »Mir war nicht klar, dass ich als Schmiedin mit den Pferden ringen muss.« Sie bemühte sich erst gar nicht, den Sarkasmus aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Wenn es so ist, dann wird das natürlich nie was. Mein Fehler. Wirklich dumm von mir.« Sie tat so, als würde sie die Schmiede verlassen wollen, hielt aber in der Bewegung inne. »Wobei ich gerne sehen würde, wie Sie mit einer Tonne Muskelmasse in den Ring steigen«, sagte sie dann zu Marlin. »Bei allem Respekt, Sir, Sie machen nicht den Eindruck, als würden Sie viel mehr Körpergewicht auf die Waage bringen als ich.«

Marlin und Rupert schienen so verdutzt zu sein, dass ihnen die Worte fehlten, dafür schüttelte sich Hailey bereits wieder vor Lachen.

»Und mit Ihren Reflexen dürfte es auch nicht mehr so weit her sein, nicht wahr?«, fuhr Charly fort. »Sie sind ja locker doppelt so alt wie ich.« Sie war unglaublich sauer, weil sie sich mit derart dämlichem Sexismus herumschlagen musste. Ja, es hatte wie ein Traumjob gewirkt, und sie war schockverliebt in die Örtlichkeit, doch vermutlich waren ihre Sinne vom Heimweh und von der Sehnsucht nach Schottland vernebelt gewesen. Darüber würde sie hinwegkommen.

»Mit meinen Reflexen ist alles in Ordnung«, knurrte Marlin und klang dabei wie ein verwundetes Tier. Schwer getroffen, aber sehr gefährlich. »Und außerdem bin ich ganz sicher nicht doppelt so alt wie Sie.«

Sie taxierte ihn mit einem kühlen Blick. Vermutlich war er tatsächlich nicht doppelt so alt wie sie, wenn auch locker dreißig Jahre älter. Aber das spielte keine Rolle. Sie würde ganz bestimmt nicht unter solchen Bedingungen arbeiten. »Wenn Sie meinen«, gab sie scheinbar nonchalant zurück, auch wenn sie innerlich bebte. »Vermutlich habe ich meinen Beruf bislang völlig falsch ausgeübt, denn ich musste in den letzten zwanzig Jahren noch nie auf meine Körperkraft setzen« – sie deutete auf ihren Bizeps, der von einem warmen Fleecepulli verhüllt war und auf den sie insgeheim ziemlich stolz war. »Sondern ausschließlich auf mein Einfühlungsvermögen mit den Tieren« – sie legte sich eine Hand auf die Brust. »Denn in diesem Punkt haben Sie zweifellos recht: In Sachen Körperkraft wäre ich sogar einem Shetlandpony unterlegen. Sie aber auch, Sir.« Sie schnippte kurz mit den Fingern, um Penny zum Abmarsch zu bewegen, und verließ hoch erhobenen Hauptes die Schmiede.