Der Papst, die FIFA und ich – über Enttäuschung, Glaube und ein kleines Wunder

30.6.2025
Autobiografie »Hoffe«, christliche Werte, Ex-Katholikin, FIFA, Fußball, Glaube und Zweifel, Hoffe, Hoffnung, Institutionen und Machtmissbrauch, Jorge Bergoglio, katholische Kirche, katholische Mädchenschule, Kirche und Frauen, Kirchenaustritt, Missbrauchsskandale, Papst Franziskus, Profifußball, Profifußball-Kritik
Bis vor fünf Jahren war ich offiziell Katholikin – Taufe, Erstkommunion, Firmung und kirchliche Eheschließung inklusive. Ich würde mich auch heute noch als Mensch mit einer christlichen Grundeinstellung bezeichnen, allerdings unterscheidet sich die signifikant von dem, was »die Kirche« in meiner Wahrnehmung nach vorlebt und predigt. Bis vor etwa sechs Jahren war ich auch noch ein glühender Fußball-Fan, doch heute mag ich kein Spiel mehr sehen. Das sind völlig zusammenhanglose Thesen? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ein Buch hat mich dazu bewegt, über diese Dinge gründlich nachzudenken.
Die katholische Kirche und ich
In meinen ersten Lebensjahren fand ich Gottesdienste super – in den 1970er-Jahren auf einem Dorf im Münchner Speckgürtel gab’s einen (in meinen Augen) coolen jungen Pfarrer, der mir und den anderen Kindern erfolgreich den Spaß am Glauben vermittelt hat. Das änderte sich sukzessive in den weiteren Jahren. Zunächst mit dem Umzug in ein anderes Dorf ein paar Kilometer weiter und vor allem mit dem Besuch des Gymnasiums, einer von Dominikanerinnen geführten Mädchenschule in München. Der Großteil der lehrenden Schwestern (überwiegend gab es glücklicherweise weltliches Lehrpersonal) war auf verstörende Art inkompetent. Allen voran meine Englischlehrerin in der fünften und sechsten Klasse. Schwester Domitila hat es im Alleingang fertiggebracht, im ersten Halbjahr die Klassenstärke von über 30 Mädchen auf unter 25 zu drücken, indem sie unliebsame Kinder (also in ihren Augen die meisten) wirklich übel gemobbt hat.
Ich erinnere mich an mindestens einen wöchentlichen, unangekündigten Leistungstest – meist ziemlich lange Diktate –, den sie »Quickie« genannt und äußerst hart beurteilt hat. Das sah dann so aus, dass sie mit dickem Rotstift über die gesamte erste Seite eine 5 oder 6 gemalt und die Note gerne mit Kommentaren wie »stupid girl« oder »shame on you« versehen hat. Besonders verhasste Mädchen (darunter mich) hat sie auch gerne damit gedemütigt, dass sie sie konsequent mit falschem Namen angesprochen hat. (Ich war meist Sabine.) Klar, ist auch eine Zumutung, sich 25 Namen merken zu müssen. Meine Eltern sahen jedenfalls keinen Grund zum Eingreifen: »Sie wird schon recht haben, vermutlich bist du einfach zu dumm.«
Unwahrscheinlich, dass so ein Verhalten heutzutage noch toleriert werden würde, aber schon damals erschien es mir recht unbarmherzig zu sein. Übrigens auch die Reaktion meiner Eltern, doch das spielt im Kontext Kirche nur eine untergeordnete Rolle.
Alles, was mir in den weiteren Jahren im normalen Schulkontext und insbesondere im Religionsunterricht vermittelt wurde, entfernte sich jedoch immer weiter von meinem Kinderglauben, der sich im Grunde auf die Werte »Liebe, Barmherzigkeit, Hoffnung und Verzeihen« zusammendampfen lässt. Das Konzept der Sünde wurde zum zentralen Thema und mit ihr auch Dinge wie Abgrenzung, Leid, Dogmen und Zuwendung, die stets an Bedingungen gebunden war. Spätestens zur Firmung war ich innerlich schon sehr weit vom Katholizismus entfernt, bin der Kirche aber noch viele Jahre mehr aus Gewohnheit denn aus Überzeugung treu geblieben. Und vielleicht auch aus der unterschwelligen Angst heraus, dass es womöglich doch schlimme Konsequenzen geben könnte. Welche auch immer.
Doch irgendwann, präzise Anfang Februar 2020, war es mir dann einfach zu viel an Skandalen und an Missbrauch. Zu viel an Verschwendung und Vertuschung. Zu viel an Männerbünden und Misogynie. Der formlose Akt des Austretens aus der katholischen Kirche fühlte sich wie eine Befreiung an und die Erleichterung hält erstaunlicherweise immer noch an.
Man kann mich also mit Fug und Recht als schwer enttäuschte, männer- und kirchenverachtende Ex-Katholikin bezeichnen, die mit der Institution nichts mehr zu tun haben möchte – auch weil die Institution ihr oft genug gezeigt hat, wie unwichtig sie (als Frau) im Gefüge ist.
Die FIFA, der Profifußball und ich
Zu meinen positiveren Eigenschaften zählt vermutlich, dass ich einerseits sehr loyal und andererseits überhaupt nicht nachtragend bin. Man kann mir also wirklich sehr blöd kommen (auch häufiger) und ich bleibe meinem Gegenüber oder einer Institution immer noch treu. Nicht falsch verstehen, ich rege mich sehr schnell sehr intensiv über Dinge und Menschen auf und lasse diese Gefühle auch raus, aber danach ist für mich in der Regel auch wieder alles gut. Es dauert aber sehr, SEHR lange, bis meine Geduld zu Ende ist und ich nicht mehr verzeihen kann und mag.
Das ist in meinem Leben kaum einem Menschen und neben der katholischen Kirche nur noch einer weiteren Institution gelungen: der FIFA (und mit ihr dem gesamten institutionalisierten Profifußball). Viele Jahre war ich ein glühender Fußball-Fan, hatte einen erfolgreichen Fußball-Blog und habe mir mit Wonne Bundesliga-Spiele und sämtliche Turniere angesehen. Auch da wusste ich natürlich um die endlosen Skandale, die Ränkespiele und männlichen Allmachtsfantasien. Mir war klar, dass es im Grunde nicht um das Spiel geht, sondern nur um Geld. Und um Macht. Also ganz ähnlich zur katholischen Kirche.
Trotzdem habe ich mir bewusst Scheuklappen aufgesetzt und nicht so genau hingesehen. Ich wollte diese Dinge nicht sehen, weil ich nicht wollte, dass sie mir die Freude am Spiel versauen (mir meinen Kinderglauben rauben). Doch irgendwann war es auch hier der eine Skandal zu viel. Es fiel mir immer schwerer, nicht hinzuschauen. Es nicht wahrzunehmen und trotzdem Spaß am Fußballgucken zu haben. 2019 habe ich das Sky-Abo gekündigt und seitdem vielleicht eine Handvoll Spiele gesehen.
Vermisse ich etwas? Ja. Aber der Ekel ist größer.
Warum dann aber eine Papst-Biografie?
Wenn ich ehrlich bin, war mir Papst Franziskus relativ egal. Ich fand ihn zwar erheblich angenehmer als seinen Vorgänger »Wir sind Papst«-Benedikt, aber letztlich erschien er mir doch nur eine weitere Marionette einer durch und durch verrotteten und regelrecht bösartigen Organisation zu sein.
Was mich letztlich dazu gebracht hat, kurz nach seinem Tod seine Autobiografie »Hoffe« zu lesen, kann ich mir nicht erklären. Es war ein starker Impuls und ich bin froh, ihm nachgekommen zu sein. Trotzdem muss ich noch einmal betonen: Ich, die enttäuschte, männer- und kirchenverachtende Ex-Katholikin, liest freiwillig eine Papst-Biografie!?
Und es war ein unglaublich berührendes Erlebnis. Franziskus erzählt von seinem höchst bewegten Leben, von seiner Familie, seinen Wegbegleitern, seinen Freuden, seinen Zweifeln, seiner Liebe und seinem Glauben. Man erlebt eine aufregende Aus- und Einwanderungsgeschichte, wird mitgenommen ins (für mich) fremde Südamerika, freut sich über seine sehr weltlichen Leidenschaften und erkennt, dass alle Menschen doch mehr eint, als trennt.
Selbstverständlich nehmen sein Glaube und seine Kleriker-Karriere, die ihn aufs höchste Amt geführt haben, einen großen Raum ein, doch ich habe in keinem einzigen Satz Belehrung erfahren – und auch keine Bekehrung zurück in den Schoß der Kirche. Stattdessen wurde mein Kinderglaube wieder wachgestreichelt. Jorge Bergoglio war zwar formal der mächtigste Mann der katholischen Kirche, doch mit Macht und den Mächtigen hatte er sichtbar seine geregelten Probleme. Er war der Papst der Armen, der Sünderinnen und Sünder, er lebte Barmherzigkeit und Toleranz (sogar gegenüber queeren Menschen, Geschiedenen und Frauen – wie konnte das passieren?) und war überzeugt davon, dass die göttliche Liebe nicht und unter keinen Umständen an Bedingungen geknüpft ist.
Hoffnung ist für ihn das wichtigste Prinzip und ein Gut, das wir Menschen unter gar keinen Umständen verlieren sollten. Es ist nicht nur okay, auf das Beste zu hoffen, es ist sogar unerlässlich, um die Welt vor dem Abgrund zu retten. Und noch etwas habe ich gelernt: Ja, Hass mag als logisches Gegenteil von Liebe erscheinen, aber schlimmer noch ist die Gleichgültigkeit, denn wo Gleichgültigkeit herrscht, hat es die Hoffnung schwer.
Wäre die katholische Kirche also wie Papst Franziskus, ich wäre wohl noch als Mitglied an Bord, doch derzeit drängt mich nichts nach Rückkehr.
Allerdings habe ich Hoffnung. Ich mag vielleicht eine Totalversagerin als Katholikin sein (und hey, ich bin sogar stolz darauf), aber als Christin darf ich mich trotzdem weiterhin bezeichnen. Und wenn es einen Gott gibt (was ich gerne glauben mag), dann wird er mich ohnehin lieben. Das ist auf seltsame Art recht tröstlich. Und mehr, als ich vom Fußball jemals erwarten kann.
Fazit
Ich möchte »Hoffe« wirklich allen empfehlen, die aktuell an der Lage der Welt verzweifeln. Für mich war das Buch wirklich Balsam auf der überreizten Seele – und zudem eine wirklich unterhaltsam geschriebene Geschichte eines bewegten und bemerkenswerten Lebens.
Klappentext von »Hoffe«, Papst Franziskus
Jorge Mario Bergoglio war kein gewöhnlicher Papst: Er war der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri, der erste Lateinamerikaner, der erste Franziskus, der Erste, der umfassende Reformen im Vatikan verfolgte. Seine Autobiografie, seine Erlebnisse spiegeln in unvergleichlicher Weise sein Vermächtnis wider, das er uns allen, dir und mir, und trotz aller Widrigkeiten zuruft: Hoffe!
Das Buch erzählt chronologisch und in Franziskus´ persönlichem Stil seine gesamte Lebensgeschichte, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen italienischen Wurzeln beginnt. Es erzählt von der abenteuerlichen Geschichte der Auswanderung seiner Vorfahren nach Lateinamerika, seiner Kindheit dort und den Turbulenzen seiner Jugendjahre. Es berichtet von seiner Berufung und seiner Reifezeit ebenso wie von seinem Pontifikat und der Gegenwart.
Mit großer erzählerischer Kraft holt Papst Franziskus aus und lässt uns teilhaben an seinen intimsten Erinnerungen (und seinen Leidenschaften). Und er geht schonungslos die zentralen Anliegen seines Pontifikats an und wendet sich mutig, nüchtern und prophetisch den wichtigsten Themen unserer Zeit zu: Krieg und Frieden (die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten), Migration, Umweltschutz, Sozialpolitik, die Stellung der Frau, Sexualität, der technische Fortschritt sowie die Zukunft der Kirche und der Religionen.
Mit vielen Enthüllungen, Anekdoten und aufschlussreichen Überlegungen präsentiert sich diese Autobiografie emotional und gleichzeitig zutiefst menschlich, anrührend und humorvoll. Hier tritt uns einerseits der „Roman eines Lebens“ entgegen und andererseits das moralische und spirituelle Testament seines Verfassers, das Leserinnen und Leser in aller Welt fasziniert, weil es das Vermächtnis der Hoffnung für künftige Generationen ist.
PS: Mein Schwester-Domitila-Trauma konnte ich übrigens überwinden und hatte Englisch neben Deutsch sogar im Leistungskurs.