Die Perfidie der Misophonie
Ich bin Misophonikerin!
Man lernt doch wirklich nie aus. Seit heute Morgen weiß ich, dass ich an einer Krankheit leide, die den klangvollen Namen "Misophonie" trägt. Diese Diagnose hat kein Arzt oder Therapeut erstellt, nein, ich verdanke sie schonungsloser Selbsterkenntnis und einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Dort wird heute auf der Wissens-Seite ausführlich das Thema Geräuschintoleranz erörtert - zu der die Misophonie zuzurechnen ist. Dabei ist der Misophoniker nicht nur einfach von einem bestimmten Geräusch genervt (z.B. Laubbläser, Hundegekläffe), sondern entwickelt schwere Aggressionen und Hassgefühle gegen den Erzeuger dieser Geräusche.
Lange Leidensgeschichte
Das Phänomen ist mir nicht fremd (ich habe es schon als kleines Kind gehasst, wenn mein jüngerer Bruder seine Suppe geschlürft und sein restliches Essen unter lautem Schmatzen verzehrt hat), neu ist mir nur, dass es wohl pathologisch ist. Will heißen: Frau Müller ist krank! Und kann nichts dafür.
Auf meinem persönlichen Hassradar sind (bzw. waren) ganz vorne mit dabei: Essensgeräusche und lautes Atmen. Das ist ein Problem. Für mich selbst und für die Geräuscheverursacher, denn gerade das Thema Atmen kann potenziell sogar tödlich werden. Der Artikel deutet an, dass man fieberhaft an Therapien arbeitet. So wird derzeit getestet, wie man Patienten mit "sanften Brummtönen" desensibilisiert. Sanfte Brummtöne waren es bei mir nicht, sondern eher eiserne Selbstbeherrschung. Schließlich kann man den geliebten Partner ja nicht ermorden, nur weil er gelegentlich schnauft, oder? Jedenfalls habe ich diese beiden Punkte inzwischen halbwegs im Griff. Ich schlafe mir Ohrstöpsel und kann mittlerweile sogar in ein chinesisches Restaurant gehen, das bevorzugt von Chinesen frequentiert wird, und es ohne Handschellen oder Nervenzusammenbruch nach meiner Mahlzeit wieder verlassen.
Heilung oder Verschiebung
Aber bin ich wirklich geheilt? Eher nicht. Stattdessen hat eine gewisse Verschiebung stattgefunden - neue Hasssubjekte (und -sounds) haben die alten überlagert: Beispielsweise ein männliches Familienmitglied (weder Ehemann, noch Bruder, noch Vater!!), das mich mit seinen Klavier-Trockenübungen (=Fingerklappern auf dem Tisch) schier in den Wahnsinn treibt, häufig kombiniert mit gemurmelten, stereotypen Halbsätzen, die ich hier leider nicht zitieren kann, weil ... nein, es geht wirklich nicht. Aber es kostet mich jedes Bisschen Selbstbeherrschung, in der Situation nicht zum Werwolf zu werden!
Und dann gibt's noch eine realtiv neue Problematik: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt schon als misophon qualifiziert, denke jedoch schon. Ein Kollege, 40+, geht neuerdings häufig mit einem fröhlichen Pfeifen oder Liedchen auf den Lippen zur Toilette (mein Büro ist eher ungünstig verortet - hinter dem Örtchen - und die Wände sind dünn). Ich weiß nicht, ob er sich damit anfeuern will oder sich wie ein kleines Kind (das aus Angst im dunklen Wald pfeift oder laut singt) mutmachen muss - aber ich finde es verstörend! Wo liegt nun also der pathologische Anfangsverdacht: bei ihm oder bei mir?
Eigentlich wollte ich in diesem Blogpost über ganz andere Dinge schreiben: den überlebten Nanowrimo und mal wieder übers Tanzen. Aber das muss warten - Krankengeschichten gehen ab einem gewissen Alter einfach vor! Ich nehm dann mal meine Pillen ...