Carin Müller bloggt ...

Hast du das alles selbst erlebt?

Die ewige Frage nach Wahrheit und Authentizität im Roman

Wenn wahr wäre, was mir manche Leser:innen, Familienmitglieder und Freunde unterstellen, dann hätte ich ein wahnsinnig aufregendes Leben. »Hast du das alles selbst erlebt?« ist eine Frage, die mir fast so oft gestellt wird wie »Woher nimmst du nur deine Ideen?«

Wenn ich jetzt mal die Klugscheißerin raushängen lassen wollte (nichts läge mir natürlich ferner), könnte ich argumentieren, dass die beiden Fragen ja recht widersprüchlich sind. Hätte ich alles erlebt, bräuchte ich keine Ideen. Logisch, oder? Aber ich schätze, das ist nicht die Antwort, die der oder die Fragende hören will. Und ich kann es ja irgendwie verstehen: Alpakas, die für das Ungeheuer von Loch Ness gehalten werden, unsichtbare Gorillas, die in der Takelage eines Großseglers turnen oder Wale, die für ein erotisches Kribbeln sorgen, sind nicht gerade selbsterklärend. Auf den ersten Blick zumindest. In den jeweiligen Szenen sind sie absolut nachvollziehbar.

Ich würde gerne behaupten, dass ich das alles schon selbst erlebt habe, doch leider habe ich noch keinen spukenden Großprimaten getroffen und auch keine erst in Seenot, dann in ungeheuerlichen Verdacht geratenen Alpakas. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es sie geben könnte. Die wichtigste Voraussetzung fürs Romaneschreiben ist nämlich zweifellos Fantasie – und die war bei mir schon immer ziemlich grenzenlos und sehr aktiv. Präzise Vorstellungskraft in Kombination mit einer guten Prise Empathie lassen auch die ungewöhnlichsten Konstellationen nachvollziehbar erscheinen.

Vom wahren Leben inspiriert

Natürlich kommt es vor, dass mich Ereignisse – ob selbst erlebt, gut dokumentiert oder nur vage davon gehört – inspirieren. In der Regel stelle ich diese Situationen aber nie auch eins zu eins im Roman so dar, wie sie in Wirklichkeit passiert sind (das wahre Leben ist entweder zu öde oder zu unglaublich, aber so gut wie nie plausibel genug für einen Roman), sondern Erinnerungsfragmente führen zu einer Szene, die ganz anders ist – und doch unglaublich intensiv.

Menschen, die mir nahestehen, meinen oft, mich in einigen Szenen wiederzuerkennen. Ich selbst kann das ehrlich gesagt nicht wirklich beurteilen, denn einerseits habe ich noch nie eine konkrete Situation in einem Roman nacherzählt, aber andererseits ist natürlich jede Geschichte zu hundert Prozent ich. Meine Fantasie ist so lebendig, dass sie für mich manchmal realer wirkt als die Wirklichkeit, insofern fällt es mir schwer, eine klare Linie zu ziehen. Wenn ich mir etwas ausdenke und aufschreibe, dann geschieht es zwar faktisch nur auf der vergleichsweise kurzen Verbindungsachse zwischen Kopf und Fingern, es fühlt sich aber total echt für mich an. Insofern könnte die Antwort auf die Frage, ob das alles selbst erlebt habe, auch JA lauten ...

Die Sache mit der Authentizität

Übrigens finde ich es ziemlich erstaunlich, dass Kollegen aus anderen Genres (vor allem Krimi/Thriller oder Fantasy) so gut wie nie danach gefragt werden, ob sie schon mal im real life einen Drachen bekämpft oder einen Menschen gemeuchelt haben. Diesen Autor:innen werden also Fantasie und Recherche als Handwerkszeug zugestanden. Spielen in Geschichten jedoch Gefühle oder gar sexuelles Begehren eine große Rolle, wird quasi automatisch angenommen, dass der oder die Schreibende das alles schon am eigenen Leibe erlebt haben MUSS. Sonst könnte man ja nicht wirklich authentisch darüber schreiben. Ja nee, ist klar ...

Überhaupt finde das Gerede über Authentizität in Romanen ziemlich dämlich. Letztlich sind wir Schriftstellerinnen doch alles Märchenerzähler. Entscheidend ist, ob eine Geschichte authentisch klingt und sich nachvollziehbar anfühlt, nicht ob alle Fakten auch nachprüfbar sind. Daher will ich auch all jenen vehement widersprechen, die fordern, dass Autoren nur über Dinge und Orte schreiben dürfen, die sie kennen. Damit wäre der Buchmarkt schlagartig um viele Juwelen ärmer. Ich gehe davon aus, dass eine J.K. Rowling niemals Eulenpost aus Hogwarts bekommen hat, und Goethe wird auch keinen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben. Auch die Brüder Grimm haben vermutlich nie Frösche oder Prinzessinnen geküsst und mit bösen Hexen oder Feen Ränke geschmiedet.

Traut uns Wortschaffenden doch ein bisschen Fantasie und handwerkliches Können zu, wenn wir Romane schreiben. Diese Geschichten sind vielleicht nicht selbst erlebt und realistisch, aber doch total wahr.