Carin Müller bloggt ...

Cold Turkey Writer

Anti Prokrastination - Hilfe für ablenkbare Autoren

Erst letzte Woche saß ich mit einer Kollegin und einem Menschen zusammen, der kein Autor ist. Die Kollegin und ich unterhielten uns über unsere aktuellen Projekte, die drohenden Deadlines und die haarsträubenden Ablenkungen, die mal mehr, mal weniger erfolgreich verhindern, dass wir unser selbstgesetztes Tagesziel erreichen. Für mein aktuelles Romanprojekt sind das derzeit 3.000 Wörter, was ungefähr zwölf Taschenbuchseiten entspricht. Wenn es gut läuft, brauche ich dafür einen halben Tag. Wenn es nicht gut läuft – und das ist die Regel – dann erheblich länger.

Der Nicht-Autor bekam bei unserem Gespräch immer größere Augen und konnte nicht nachvollziehen, was unser Problem ist. Er gehört zu jenen beneidenswerten Menschen, die Aufgaben einfach erledigen, ohne sich ablenken zu lassen. Vielleicht ist er aber auch – ohne ihm zu nahe treten zu wollen – einfach auch nicht mit derart viel überflüssiger Fantasie ausgestattet. Das mag auch hilfreich sein. Genauer gesagt konnte er nicht einmal etwas mit dem Begriff Prokrastination anfangen – dem Angstgegner aller Schreibenden. Also habe ich es ihn an einem aktuellen Beispiel erklärt.

Was ist Prokrastination?

In meinem derzeitigen Schottlandroman wundert sich mein Protagonist über den Namen seines Pferdes. Er erkundigt sich bei den Züchtern, wie sie auf den Namen gekommen sind. [ich möchte erwähnen, dass dies eine für die Handlung komplett irrelevante Szene ist!]

An dieser Stelle habe ich mein Schreiben unterbrochen, weil sich mir plötzlich die brennende Frage gestellt hat, ob für den Fohlennamen der Anfangsbuchstabe der Mutter oder der des Vaters genommen wurde? Das wird nämlich von Pferderasse zu Pferderasse und von Zuchtverband zu Zuchtverband anders gehandhabt. Da es sich um Clydesdales handelt (eine schottische Kaltblutrasse), habe ich die Suchmaschine meines Vertrauens (Ecosia) befragt, aber leider keine eindeutigen Antworten erhalten. Dafür habe ich die Website des deutschen Clydesdale-Zuchtverbands entdeckt, bin von dort auf ein Gestüt im südlichen Ruhrgebiet gestoßen und schließlich über einen Artikel in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 2011 gestolpert. Darin ging es um einen jungen Tierarzt aus dem Rhein-Main-Gebiet, der einen jungen Clydesdale Hengst aus Kanada nach Hessen importiert hat. Ich war wie elektrisiert, dass es womöglich direkt vor meiner Haustüre diese Pferde gibt. Also habe ich nach jenem Tierarzt gegoogelt (vielmehr »ge-ecosiat«) und habe gelernt, dass der Tierarzt inzwischen mit seinem Ehemann auf einer Ranch in Montana lebt und dort Clydesdales züchtet. Einerseits sehr enttäuschend, andererseits ist die Seite wirklich schön und informativ und ich wollte im nächsten Schritt herausfinden, ob ich vielleicht demnächst mal einen Montana-Urlaub einplanen sollte.

All das, wegen eines vollkommen nichtigen Aspekts in meinem Buch! Eine halbe Stunde Lebens- und Schreibzeit futsch, OHNE die tatsächliche Antwort auf meine Frage bekommen zu haben. DAS ist Prokrastinieren für Autor*innen! Und ich kann versichern, das war nur ein minderschwerer Fall.

Ich habe Abhilfe gefunden!

Nun mache ich diesen Job ja schon ein ganzes Weilchen und kann mich notfalls – oder wenn der Druck zu groß wird – auch zum konzentrierten Schreiben zwingen, aber es wäre doch herrlich, wenn es auch einfacher ginge!

Spoiler-Alarm: Es geht! Eine Kollegin in meiner Schreibgruppe, die ein ähnliches Ablenkungsproblem wie ich hat, schwärmte von »Cold Turkey Writer«. Den Begriff »Cold Turkey« kennt man aus der Drogenszene und bedeutet so viel wie »kalter Entzug«. Während also die Junkies von einem Moment auf den anderen keinen Stoff mehr bekommen, blockiert die App uns Schreibenden den Computer.

Das Programm bietet zwei unterschiedliche Arbeitsvarianten: Entweder man gibt sich eine Wortzahl vor oder eine Zeitdauer. Währenddessen hat man auf seinem Bildschirm lediglich ein weißes Dokument, das gefüllt werden will. Keine Chance, zwischendurch auf Facebook zu linsen oder nach Pferdenamen zu suchen. Keine Chance, sich von Mails oder Push-Nachrichten ablenken zu lassen. Aus der App kommt man erst wieder raus, wenn man sein persönliches Ziel erreicht hat.

Ich habe mir sogar die Pro-Version für acht Euro gegönnt, weil ich dann beim Schreiben noch Regen- oder Kaffeehausgeräusche hören kann, die freundlicherweise die Nachrichtentöne meines Computers etwas überdecken. Denn das ist das besonders Fiese: Der Rechner läuft ganz normal weiter. Mails kommen rein, Menschen schreiben uns auf Facebook an. Man kann es hören (wenn man die Benachrichtigungstöne nicht ausgeschaltet hat), aber man kann nicht handeln.

Es ist erstaunlich, wie gut es funktioniert. Ich habe bislang vorwiegend mit dem Zeitlimit gearbeitet und festgestellt, dass ich zwanzig Minuten plötzlich 400 bis 500 Wörter schreiben kann, sprich mein Tagesziel locker in drei Stunden schaffe. Theoretisch zumindest, denn zwischendurch brauch ich schon auch kleine Päuschen. Die oben erwähnte Café-Kollegin sagte mir, dass es bei ihr nichts hilft, denn sie würde dann halt am Handy weiterdaddeln. In solchen Fällen empfehle ich dann das Wortlimit – so lange das nicht erreicht ist, kommt sie nicht mehr an ihren Rechner.

Fazit

Für mich doppelt Daumen hoch! Es ist ein tolles Tool, die Gratisversion reicht völlig aus (wer auf Regen und Kaffeehaus verzichten kann) und könnte auch für Menschen, die keine Romane schreiben, hilfreich sein. Auch Referate, Hausarbeiten, Studienarbeiten oder sonstige Texte gehen damit viel schneller.

Man sollte nur darauf achten, sich keine zu großen Ziele zu setzen, lieber mit kleineren Wort- oder Zeiteinheiten starten. Einmal habe ich mich schon vertippt und statt 20 Minuten 200 eingegeben. Gut drei Stunden war mein Rechner damit gesperrt, aber in der Zeit habe ich gut 2.000 Wörter geschrieben, Scotty durchs Viertel gejagt und Abendessen vorbereitet. Es war also letztlich doch ganz erfreulich.