Carin Müller bloggt ...

Missverständnisse

Mandelbrot-Fraktal, Stuerberater, Hundetrainer

Was mach ich mir oft einen Kopf darüber, ob mein Gegenüber mich auch versteht, wenn ich ausnahmsweise mal auf Englisch kommunizieren oder korrespondieren muss. Ich würde behaupten, dass mir die Sprache ganz gut im Ohr liegt und ich sie einigermaßen sattelfest beherrsche, kein Grund zur Sorge also. Das kann ich mir so lange recht erfolgreich einreden, bis ich in meiner Muttersprache in eine kommunikative Sackgasse laufe und nur noch Bahnhof verstehe.

Was erschütternd oft geschieht und mich höchst nachdenklich stimmt, denn schließlich bilde ich mir mehr als nur ein bisschen was darauf ein, mich präzise und verständlich ausdrücken zu können. Und vor allem darauf, ein so gutes Sprachgefühl zu haben, sodass ich auch komplexe Texte verstehe. Guess what? Es stimmt nicht.

Mandelbrot-Fraktale

Neulich las ich in der Süddeutschen Zeitung einen Feuilleton-Artikel von Andrian Kreye über künstliche Intelligenz, ein Thema, das mich ja ebenfalls derzeit ziemlich umtreibt. Das Textprogramm Chat GPT kam dabei ziemlich schlecht weg (ich bin gerade auch sauer auf meinen Kumpel Chat, weil er mal wieder überlastet ist und ich deshalb selbst schreiben muss ... ärgerlich!), gelobt wurde aber der Digitalkünstler Refik Anadol. Für das diesjährige Weltwirtschaftsforum in Davos schuf er das Werk »Artificial Realities: Coral«. Dafür hat er eine KI mit Milliarden Bilder von Korallen gefüttert, die daraus dann sich ständig verändernde Bildtafeln erzeugt. Ich zitiere: »Das wabert und wallt wie Blütenmeere, Wellen oder Mandelbrot-Fraktale.«

Während ich eine vage Vorstellung davon hatte, wie das wohl aussehen mag, blieb ich am geheimnisvollen Begriff »Mandelbrot-Fraktale« hängen. Irgendwie ahnte ich, dass es sich bei Mandelbrot nicht um Cantuccini handelt, sondern um einen Namen, aber was Fraktale sind? Keine Ahnung.

Also habe ich Wikipedia befragt und folgende Antwort bekommen:
»Fraktal ist ein vom Mathematiker Benoît Mandelbrot 1975 geprägter Begriff (lateinisch fractus ‚gebrochen‘, von lateinisch frangere‚ (in Stücke zer-)‚brechen‘), der bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische Muster bezeichnet.

Diese Gebilde oder Muster besitzen im Allgemeinen keine ganzzahlige Hausdorff-Dimension, sondern eine gebrochene – daher der Name – und weisen zudem einen hohen Grad von Skaleninvarianz bzw. Selbstähnlichkeit auf. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Objekt aus mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst besteht. Geometrische Objekte dieser Art unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten von gewöhnlichen glatten Figuren. Der Begriff Fraktal kann sowohl substantivisch als auch adjektivisch verwendet werden. Das Gebiet der Mathematik, in dem Fraktale und ihre Gesetzmäßigkeiten untersucht werden, heißt fraktale Geometrie und ragt in mehrere andere Bereiche hinein, wie Funktionentheorie, Berechenbarkeitstheorie und dynamische Systeme. Wie der Name schon andeutet, wird der klassische Begriff der euklidischen Geometrie erweitert, was sich auch in den gebrochenen und nicht natürlichen Dimensionen vieler Fraktale widerspiegelt. Neben Mandelbrot gehören Wacław Sierpiński und Gaston Maurice Julia zu den namensgebenden Mathematikern.«

Glasklar, oder? Keine weiteren Fragen. Ehrlich, es erschüttert mich, dass ich einen Text zwar lesen kann, ihn aber beim besten Willen nicht verstehe. Allein dieser Satz: »Diese Gebilde oder Muster besitzen im Allgemeinen keine ganzzahlige Hausdorff-Dimension, sondern eine gebrochene – daher der Name – und weisen zudem einen hohen Grad von Skaleninvarianz bzw. Selbstähnlichkeit auf.«

So viele Fragen, so wenige Antworten. Was ist eine »ganzzahlige Hausdorff-Dimension«? Unterscheidet sie sich womöglich von halb- oder viertelzahligen Dimensionen? Und wie verhält es sich mit den Potenzen? Was ist Skalenvarianz? Und Selbstähnlichkeit? Darf ich das wie ein Selfie verstehen, das mit einem hübschen Filter geschossen wurde? Sieht mir selbst ähnlich, aber eben nicht ganz? Ich habe keine Ahnung.

Ich habe begriffen, dass es sich um Mathematik handelt und Zahlen noch nie wirklich meine Freunde waren, aber dass ich nicht einmal ansatzweise verstehe, worum es in diesem Text geht? Deprimierend.

Ähnlich schwierig: Steuerberaterin

Zugegeben, so oft muss man sich im schnöden Alltag nicht mit Mandelbrot-Fraktalen auseinandersetzen (auch wenn sie hübsch aussehen, wie man oben im Bild erkennen kann), aber auch in erheblich banaleren Zusammenhängen finden sich Kommunikationssackgassen. Beispielsweise wenn ich mit meiner Steuerberaterin spreche oder mit ihr schreibe. Da habe ich jedes Mal das Gefühl, dass es sich um zwei parallel verlaufende Dialoge handelt, die nichts miteinander zu tun haben. Das klingt dann beispielsweise so (ohne Steuer- und Finanzkram, um es plakativer darzustellen):

Ich: Auf meiner Terrasse stehen seit geraumer Zeit zwei Hochbeete. In einem pflanze ich Kräuter an, im anderen Erdbeeren. Nun überlege ich, ob noch einen Kartoffeleimer anschaffen soll. Mach das Sinn?

Sie: Das Wetter kann im Januar und Februar in Marokko sehr unbeständig sein. Mit ein wenig Glück, ist es schon mild und sonnig, aber es kann auch viel regnen und recht kalt werden. Konnte ich Ihnen damit helfen?

Ich: Äh ...? Was hat das mit den Kartoffeln zu tun?

Sie: Nun in der Landwirtschaft braucht es neben Regen auch Sonneneinstrahlung. Außerdem benötigen Pflanzen auch Kohlendioxid, um Fotosynthese machen zu können.

Ich: Ja klar, aber das ist jetzt sehr allgemein und hilft mir in meiner konkreten Fragestellung nicht wirklich weiter. Ich frage Sie ja als Expertin, ob Sie mir zu einem Kartoffeleimer auf meiner Terrasse raten oder ob ich lieber die Finger davon lassen soll.

Sie: Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Kartoffeleimer können Sinn machen, allerdings kenne ich den spezifischen Anbieter nicht und Sie müssen darauf achten, dass die quartalsweise anfallenden Jungknollen nicht die Bemessungsgrenze von Marokko überschreiten.

Ich: Okay, alles klar, danke. Ich schicke dann jetzt einfach meine Buchhaltung und denke über den Kartoffeleimer noch einmal nach.

Ersetzt man die Hochbeete mit Distributionsplattformen wie Amazon und Tolino und den Kartoffeleimer mit einer Direktverkaufsmöglichkeit auf meiner Website, wird es etwas deutlicher. Aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich auf absehbarer Zeit einen eigenen Shop einrichten kann, weil es in Marokko regnen könnte. Oder so.

Ultimative Challenge: Hundetrainer

Unser Leben wird seit einem guten Jahr von Scotty bereichert, der wiederum für reichlich neue Bekanntschaften sorgt. Eine davon ist ein waschechter Hundeflüsterer. Ich lasse grundsätzlich auf P. nichts kommen. Scotty liebt ihn und freut sich jedes Mal wie verrückt auf die Abenteuerrunden, die P. mit ihm und einigen anderen verhaltensauffälligen, unausgelasteten Salonlöwen unternimmt. Scotty lernt dabei eine Menge, während parallel meine Nerven geschont werden. Zumindest stundenweise.

Geht es allerdings darum, Trainingssessions für Tier UND Menschen zu vereinbaren, wird es schwierig, obwohl alle Beteiligten von der Sinnhaftigkeit dieser Einheiten überzeugt sind.

In einem hochkomplexen Prozess, der dem der Mandelbrot-Fraktale in nichts nachsteht, wird ein Termin vereinbart, an dem alle drei Menschen (Scottys Zweibeiner UND der Hundeflüsterer) können. Dieser Termin wird mehrfach auf den unterschiedlichsten Kommunikationswegen (SMS, Chat-Dienst, Telefon UND im persönlichen Gespräch) verbindlich fixiert. Der Termin naht. Scotty, seine Zweibeiner plus alle extra angeschafften Trainingsgerätschaften sind vollzählig anwesend. Wer kommt nicht? Richtig – P.! Ich warte eine Viertelstunde (die muss schließlich immer drin sein), ich warte eine halbe Stunde (man weiß ja nie). Nach einer Dreiviertelstunde rufe ich an. Mailbox. Ich spreche drauf. Kurz darauf kommt eine Textnachricht. »Oh no, hab ich total vergessen. Jetzt bin ich gerade mit einem Notfall beim Tierarzt und hab vergessen, euch abzusagen. Aber ehrlich gesagt habe ich den Termin auch total vergessen gehabt.«

Seufz. Muss man verstehen. Der letzte Termin-Reminder lag ja immerhin schon 27 Stunden zurück. War ja auch nur ein persönliches Gespräch ...

Wohin soll das führen?

In solchen Situationen wachsen Frust und generelle Zweifel an der Kommunikationsfähigkeit von Menschen. Offenbar ist reibungsarmer Austausch von Worten nur in Gruppierungen von Gleichgesinnten möglich. Wobei? Wenn man sich die Scheidungsraten ansieht, darf man auch dabei ins Grübeln kommen.

Daher meine ernstgemeinte Frage: Ist da draußen jemand, der mich versteht?