Schreibmythos: Authentizität

26.6.2023
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»Schreib, was du kennst!«, ist ein Ratschlag, den Schreibneulinge oft zu hören bekommen. Es ist auch kein grundsätzlich schlechter Hinweis, denn wenn man noch mit dem Herantasten ans Handwerk beschäftigt ist, muss man sich nicht auch mit fremden Örtlichkeiten, Denkweisen und Geschlechtern herumschlagen. Es gibt Menschen, die propagieren sogar, dass wahre Authentizität in Romanen nur dann entsteht, wenn der oder die Autor*in ganz genau weiß, was die Figur empfindet, wo sie lebt und wie sie sich in ihrem Umfeld bewegt. Klingt erst einmal schlüssig, doch für mich ist dass dann kein Roman mehr, sondern eine Autobiografie.
Wie authentisch muss eine Geschichte sein?
Wenn man für vermeintlich wahre Authentizität ausschließlich seine eigene Erfahrungswelt zugrunde legen dürfte, wäre der Buchmarkt schlagartig bereinigt. Es gäbe nur noch sehr wenige Krimis und Thriller und praktisch keine Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten mehr.
In ein ähnliches Horn stößt die »Own Voice«-Bewegung. Demnach dürften ausschließlich Angehörige einer Gruppe über eben jene Gruppe schreiben. Also dürften nur blinde Menschen über eine blinde Figur erzählen, Depressive über Depressionen, Schwarze über Schwarze ... Nicht falsch verstehen, ich finde es gut und richtig, dass man Autor*innen einer (marginalisierten) Gruppe nicht nur ihre eigene Stimme zugesteht, sondern ihnen idealerweise auch hilft, Gehör zu finden. Aber ebenso ist richtig, dass beispielsweise nicht alle lesbischen Autorinnen Geschichten über Frauenliebe erzählen wollen, sondern sich auch das Recht herausnehmen, Thriller über heterosexuelle, psychopathische Sadisten zu schreiben.
Will heißen: Die eigene Stimme und die eigene Lebenswirklichkeit kommen in der Fiktion schnell an ihre Grenzen!
Nach Wahrhaftigkeit streben
Vielleicht sollte man das Dogma der Authentizität etwas aufweichen und das überwältigende A-Wort durch »Wahrhaftigkeit« oder »Ehrlichkeit« ersetzen. Das funktioniert in jedem Genre und aus jeder erzählerischen Warte. Wenn es mir als Autorin gelingt, meine Figuren so lebendig und »wahrhaftig« darzustellen, dass die Leserinnen und Leser sie als real empfinden, ist das eines der größten Komplimente, das man bekommen kann.
Das funktioniert jedoch nur, wenn man gnadenlos ehrlich (mit sich und den Figuren) ist und auf wahre Gefühle setzt. Sobald man auf eigene Erlebnisse und Emotionen zurückgreift (und sich dabei zumindest vor sich selbst ziemlich nackig macht), werden auch die Figuren und die Szenen realistisch. Dabei darf man aber natürlich abstrahieren. Liebe, Angst, Wut, Trauer sind starke und universelle Gefühle, die so gut wie jeder Mensch nachempfinden kann. Die Auslöser können mannigfaltig sein, aber die Essenz bleibt – egal, ob ich mich vor einer haarigen Spinne oder einem gnadenlos mordenden Alien fürchte.
Wenn es also gelingt, wahre Gefühle zu transportieren, ohne sich hinter ironischer Distanz oder hohlen Allgemeinplätzen zu verschanzen, dann wird eine Geschichte authentisch. Das ist anstrengend, oft schmerzhaft und sehr fordernd, doch dies ist die Authentizität, die ich wichtig und richtig in Romanen finde.
Ich finde es auch in Ordnung, über marginalisierte Gruppen zu schreiben, selbst wenn ich ihnen nicht angehöre. Genau wie über (psychische) Krankheiten, ohne selbst daran zu leiden. Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass sie für die Geschichte relevant sind, sie inklusiver, diverser und bunter machen, genau wie ich mir das reale Leben auch wünsche. Es ist für mich jedoch absolut selbstverständlich, gründlich zu recherchieren und idealerweise mit Angehörigen und Betroffenen zu sprechen (oder sie meinen Text lesen zu lassen), um Falschaussagen und Klischees zu vermeiden.
Fazit
Fiktion sollte frei sein und alles dürfen. Es muss nicht jedem gefallen und nicht jede Geschichte muss eins zu eins den Erlebnissen der Autorin oder des Autors entsprechen, um als authentisch zu gelten. Aber idealerweise sollte sie wahrhaftig und ehrlich sein, denn das ist für mich persönlich die eigentliche Qualitätswährung.