Carin Müller bloggt ...

Mobbing: Von Tätern und Opfern

Mobbing

Schon erstaunlich wie sich manche Themen geradezu verselbständigen, wenn man sie erst einmal für sich entdeckt hat. Bei mir ist es das Thema Rassismus, das mich seit Monaten umtreibt (auch hier auf diesem Blog), und bei dem ich immer neue Facetten entdecke.

Plötzlich fallen mir nicht nur im wahren Leben Fälle von Ausgrenzung auf, sondern ich achte auch in Büchern und in Filmen darauf, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Nicht immer brillant, das muss ich vorausschicken. Und ich kann und will mich da selbst nicht ausnehmen. Ich schätze, dass ich viel zu lange in »Happyland« gelebt habe – wem das nichts sagt, der sollte einmal »exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen« von Tupoka Ogette lesen. Meine Ignoranz und mein Unwissen haben sicherlich vielfach zu unbedachten Bemerkungen und Kommentaren geführt – und womöglich habe ich auch in meinen Büchern Dinge dargestellt, die ich heutzutage als rassistisch bezeichnen würde.

Das ist peinlich, unangenehm – aber leider kaum rückgängig zu machen.

Verdammtes Schubladendenken

Offenbar ist das menschliche Gehirn in einer Form verdrahtet, dass es sich nach Möglichkeit immer den schnellsten Weg sucht. Man sieht einen Menschen und packt ihn ganz unbewusst innerhalb von Nanosekunden in eine Schublade. Auf dieser Schublade prangt groß und fett ein Label und wir richten unser Verhalten entsprechend dieser Bezeichnung aus. Das Gros unserer Begegnungen fliegt übrigens völlig unter dem Radar, weil diese Menschen unserem Weltbild entsprechen und mehr oder weniger so sind wie wir selbst. In meinem Fall also eine weiße, mittelalte, leicht übergewichtige Frau.

Wenn ich mit meinem Hund durch die Straßen meines Stadtviertels marschiere, fallen mir beispielsweise dunkelhäutige oder asiatische Menschen auf. Ich nehme verschleierte Frauen wahr und attraktive junge Muskelmänner, die im Park ihr Sixpack stählen. Diese Sinneseindrücke packt mein eigenmächtiges Unterbewusstsein sofort in die passenden Schubladen – und meistens war es das dann auch. Denn nur selten kommt es zu einer Interaktion mit diesen Menschen. Wenn aber doch, öffnet sich sofort die passende Schublade und serviert mir ungefragt Verhaltensvorschläge.

Vermutlich ist das auch total sinnvoll angelegt, damit das tägliche Miteinander geschmeidiger und reibungsloser abläuft – aber nicht selten, bringt es auch viel Frust und im schlimmsten Fall auch Leid. Für das Gegenüber und einen selbst.

Wir können also nichts dafür, dass es passiert – aber wir können versuchen, die Schubladen anders zu bewerten.

Was hat das mit Mobbing zu tun?

Ich bin mir sicher, dass jede Form von Ausgrenzung, Diskriminierung und Mobbing mit dem eingeübten, unbewussten Schubladendenken zu tun hat. Und es trifft auch restlos ALLE! Mir wurden schon die krassesten Sprüche gedrückt, weil ich eine Frau bin, wegen meiner Figur (gerne auch als »Kompliment« getarnt!), weil ich einen Hund habe, wegen meines Berufs, weil ich keine Kinder habe, wegen meines losen Mundwerks ... Die Liste könnte ich noch ein ganzes Weilchen fortführen, aber es wird hoffentlich klar, worauf ich hinaus will. Jeder einzelne von uns erlebt solche Mikroaggressionen immer wieder.

Selbst wenn es Kleinigkeiten sind, tun sie doch weh. Auch winzige Sticheleien perforieren irgendwann die Haut. Selbst meine – und ich bin normalerweise recht stolz auf mein dickes Fell und meine stabile Psyche.

Jetzt könnte man annehmen, dass jeder, der schon mal eine Opfererfahrung gemacht hat (also JEDER!) und weiß, wie es sich anfühlt, wegen irgendeiner Kleinigkeit verurteilt, ausgegrenzt oder herabgesetzt zu werden, selbst sensibler mit seinen Mitmenschen umgeht. Das wäre schön. Ist aber ein Trugschluss. Denn natürlich hat auch jedes Opfer seine eigenen Schubladen im Kopf und agiert – bewusst oder unbewusst – nach den darin vorgeschlagenen Verhaltensmustern. Und wird nicht selten selbst zum Täter.

Ich sehe mich gerne als toleranten, offenen und meist auch recht großherzigen Menschen, aber leider tappe ich immer wieder in die Schubladenfalle – und verletzte dabei andere Menschen. Meist vollkommen unbewusst, manchmal durchaus mit klarer Wahrnehmung und selten auch mal in voller Absicht. Das ist fies, verabscheuungswürdig – aber ich fürchte, auch zutiefst menschlich.

Augen auf – Mund auf

Doch glücklicherweise sind wir ja alle auch mit einem gewissen Maß an Intelligenz gesegnet und nicht abhängig davon, auf ewige Zeiten in unserem Schubladendenken verhaftet zu bleiben. Wir können Dinge hinterfragen. Wir können uns bewusst für andere Reaktionen entscheiden und sehen, was dann passiert. Wir können neue Erfahrungen machen und wir können sensibler werden. Für uns selbst und für unsere Mitmenschen.

Dafür müssen wir aber erst unsere Augen öffnen und dann über unsere Erfahrungen sprechen. Täter und Opfer! Ich weiß natürlich, dass in Fällen harten Mobbings oder wenn beispielsweise eine Schwarze von einem alkoholisierten Nazi angepöbelt wird, eher keine direkte Konfrontation möglich und sinnvoll ist. Doch darum geht es mir nicht. In entspannten Situationen in einem sicheren Umfeld – mit guten Freunden oder Familienmitglieder beispielsweise – kann man das wunderbar üben. Wenn jeder erzählen darf, was ihn triggert und verletzt, bekommt man schon als Zuhörer ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen und individuellen Empfindungen sind. An welchen Stellen wunde Punkte liegen können.

Normalerweise gehen wir (das ist wohl auch so eine scheinbar sinnvolle Abkürzung im Hirn) davon aus, dass die meisten anderen Menschen ganz ähnlich ticken und empfinden wie wir selbst – doch das ist häufig ein krasser Irrtum. Aber das erfährt man nicht, wenn alle schweigen und man selbst die Augen verschließt.

Keine Hierarchisierung des Leids

»Ich wurde als Kind in der Schule wegen meines Übergewichts gemobbt und gestern hat mir ein orientalisch aussehender Mann – bestimmt ein Flüchtling – meine Handtasche geklaut. Warum sollte ich mir jetzt von dieser Schwarzen Frau sagen lassen, dass es nicht okay ist, ›10 kleine N...erlein‹ mit meinen Kindern zu singen?«

Das ist natürlich eine frei erfundene Aussage, aber Ähnliches habe ich schon häufig in meinem Umfeld gehört. Und womöglich auch schon selbst mal gesagt. Menschen neigen dazu, sich selbst und ihre Erfahrungen als besonders wichtig zu nehmen (danke, Evolution!), und oft geht in Ausnahmesituationen dann jede Empathie für die Anderen flöten.

Für die fiktive dicke Frau, deren Handtasche gerade geklaut wurde, ist gerade die Welt zusammengebrochen. Vielleicht waren in ihrem Geldbeutel unwiederbringliche Fotos drin oder das Geld, das sie hart für eine Reise gespart hat? Natürlich fühlt sie sich verletzt und attackiert. In Kombination mit ihrer schrecklichen Kindheitserfahrung, kann da ganz schnell eine »Ich bin hier das Opfer!«-Attitüde erwachsen. Und es stimmt ja auch. Sie ist ein Opfer. Aber die Frau, die sich durch ein scheinbar harmloses Kinderlied marginalisiert fühlt, ist es auch.

Viele fühlen sich im Moment durch die »Black Lives Matter«-Bewegung provoziert. Sie halten den Protest für übertrieben und viel zu breit angelegt. »Ich bin ja kein Rassist, aber das geht langsam echt zu weit. Die sollen sich mal wieder einkriegen und nicht so ein Drama machen.« Wie oft haben wir diesen Satz schon gehört? Oder am Ende sogar selbst gesagt?

Ähnlich wurde und wird gegen Klimaaktivisten und Feministinnen agitiert. Und das ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Im Kleinen läuft es ganz genauso. Mein Frust wiegt immer schwerer als der des Gegenübers. Isso! Oder? Dabei ist es so unfassbar wichtig, den Mund aufzumachen. Dem eigenen Leid und dem der Gruppe eine Stimme zu geben. Auch auf die Gefahr, dass man die Anderen damit kolossal nervt.

Wenn wir lernen, dass jeder Mensch andere Wunden hat und dass es keinen Sinn macht, Leid gegeneinander aufzuwiegen und hierarchisieren, wenn wir lernen, miteinander in Dialog zu treten und auch unangenehme, schmerzhafte Wahrheiten auszusprechen, dann wäre schon viel gewonnen.

Mehr Sensibilität auf der einen Seite, mehr Gelassenheit auf der anderen. Mehr Empathie und mehr Verzeihen. Denn wir alle sind mal Opfer und mal Täter. Wir alle können zum Arschloch werden (und tun es auch ab und zu). Wir alle haben Fehler. Keiner ist perfekt. Wir alle sind Menschen!