Carin Müller bloggt ...

Aushalten

Manchmal muss man einfach nur durch- und aushalten

Seit zehn Monaten sind wir mehr oder weniger zum Nichtstun verpflichtet. »Bleiben Sie zu Hause!«, heißt es. »Treffen Sie so wenig Menschen wie möglich!« Die Pandemie hat die Welt im Griff und unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Das geht massiv an die Substanz – selbst unerschütterlichen Rossnaturen wie mir. Wir alle sind in Sorge, wir alle fragen uns bange, wie lange es »so« noch weitergehen wird. Viele sagen, dass es »so« nicht mehr lange weitergehen kann. Weil sonst die Wirtschaft kollabiert, der Kulturbetrieb nicht mehr zu retten ist, die Kinder verdummen und die Menschen vereinsamen. Und das sind nur einige der vielen validen Gründe, die angebracht werden.

Leider gibt es nur wenige Lösungsstrategien, die Sinn ergeben, denn nur weil etwas »nicht mehr lange so weitergehen kann«, ist das ja noch lange keine Antwort auf das vorliegende Problem. Das da lautet: Wir müssen alles daran setzen, Ansteckungen zu vermeiden, bis sich die Lage durch milderes Klima und Impfungen entschärft.

Zum Stillhalten verdonnert

Im Grunde bedeutet das, dass die ideale Reaktion auf die aktuelle Lage Nichtstun ist. Wer allein zu Hause auf dem Sofa sitzt, Pizza vom Lieferservice isst und Netflix guckt, verhält sich ganz besonders gemeinschaftsdienlich. Für anglophile Menschen bietet sich auch das Lebensmotto »Abwarten und Teetrinken« an. Das sind natürlich keine Lebenskonzepte, die auf Dauer angelegt sind, schon klar, aber trotzdem könnte man sich zumindest ein bisschen daran orientieren. Denn wenn ich eine Situation selbst nicht ändern kann, bleiben nicht schrecklich viele Alternativen.

Mir fallen spontan sogar nur zwei ein: Versuchen, das Beste daraus zu machen, und den aktuellen Status Quo einfach aushalten oder durchdrehen. Leider entscheiden sich viele Menschen derzeit für die zweite Variante.

Vermutlich kann man es ihnen noch nicht einmal verübeln, denn das ohnmächtige Gefühl, einer Situation ausgeliefert zu sein, ist verdammt beängstigend. Angst macht irrational und sucht sich die erstaunlichsten Ausdrucksformen. Besonders beliebt ist es, anderen die Schuld für das eigene Elend zuzuschreiben. Das kann man im Großen wie im Kleinen beobachten und die Sündenböcke sind zahlreich. Bezogen auf Covid heißen sie besonders gerne »die Chinesen«, »die Regierung«, »der Asso in der U-Bahn ohne Maske«, »die Nachbarin, die das Ordnungsamt gerufen hat, weil wir eine kleine Party gefeiert haben« und natürlich: »die Medien«!

Hilft Brüllen gegen die Angst?

Brüllen und Keifen gegen die Angst

Da wird dann getobt, gebrüllt und gestänkert – auf »Querdenker-Demos« und in den sozialen Medien. Nicht falsch verstehen, ich bin sehr dafür, dass man seine Meinung kundtut, dass man Missstände anprangert und sich für eine bessere Welt einsetzt. Doch genau das passiert ja nicht. Ich habe leider noch keine einzige sachliche oder gar sachdienliche Diskussion erlebt, stattdessen wird immer weiter gezündelt. Werden tiefe Keile zwischen sich selbst und »den Anderen« getrieben. Doch löst das die Angst? Ich denke nicht. Lautes Schreien mag ein kurzfristiges Ventil sein, um sich Luft zu machen, echte Erleichterung bringt es nicht.

Viel sinnvoller wäre es doch, erst einmal einen Schritt zurückzutreten und genau darauf schauen, WAS Angst macht und wie man diesem Gefühl begegnen kann. Klingt passiv oder sogar reaktiv, ist aber das Stärkste, das wir tun können. Angst ist nur ein Gefühl, keine reale Bedrohung. Angst verschwindet nach einer gewissen Zeit ganz von alleine wieder (dafür sorgt schon unser Organismus).

Ja, es ist eine unfassbare Sch***-Situation und es geschehen viele Dinge, die schlimm sind. Menschen verlieren ihre Arbeit, Geschäfte und Kultureinrichtungen gehen pleite ... Das IST furchtbar! Aber daran ändert sich auch nichts, wenn man irrational herumbrüllt. Es wird TROTZDEM passieren. Allerdings kann jeder von uns eine Menge tun, um real etwas zu verbessern: Indem man sich selbst zurücknimmt, indem man die unpopulären Regeln einhält (Maske, Abstandhalten, Kontaktvermeidung sind nun mal die derzeit besten Mittel gegen eine Ansteckung) – indem man die Situation schlicht AUSHÄLT.

This too shall pass

»Auch das wird vorübergehen« – dieser Ausspruch stammt aus dem Persischen. Mittelalterliche Poeten hatten damals schon begriffen, dass nichts, wirklich gar nichts für die Ewigkeit ist. Alles geht vorüber, auch diese Pandemie. Wir müssen einfach durchhalten und es aushalten.

Ich weiß, »einfach« klingt in diesem Zusammenhang verdammt zynisch, denn simpel ist daran gar nichts. Doch meiner Meinung nach ist es aber auch absolut alternativlos. Ich selbst bin leider längst nicht so tiefenentspannt und zurückgenommen, wie man nach der Lektüre dieser Zeilen vielleicht annehmen könnte. Ich hasse es, passiv zu sein. Ich nehme mein Schicksal lieber in die eigenen Hände. Und ja, ich rege mich auch wahnsinnig schnell auf und kenne den Impuls sehr gut, meine Wut ungefiltert rauszuplärren.

Grundsätzlich finde ich es auch gut, wenn man Missstände gleich anspricht und nicht ewig alles in sich hineinfrisst. Doch – und da komme ich wieder zur Eingangssituation – es gibt nichts, was ich derzeit tun könnte, das die aktuelle Corona-Lage verbessern könnte! Außer: zu Hause bleiben, Abstand halten, aushalten. Ich habe das große Glück, dass es mir mein Job erlaubt, jederzeit in andere virenfreie Sphären abzutauchen und ich nutze dieses Privileg weidlich aus. Aber niemand, wirklich niemand muss aus schierer Hilflosigkeit oder Angst noch weiter Öl ins Feuer gießen und die Situation auch für andere Menschen noch unerträglicher machen!

In der Social-Media-Hölle

Leider passiert genau das aber ununterbrochen. Ich surfe schon seit geraumer Zeit nur noch mit Scheuklappen durch Facebook & Co, habe diverse Menschen »entfreundet« oder schlimmstenfalls sogar schon blockiert, weil ich gewisse Dinge nicht lesen will, doch natürlich stolpere ich praktisch täglich über den ein oder anderen Post, der meinen Blutdruck in ungesunde Höhen treibt.

So hat vor ein paar Tagen jemand Folgendes gepostet: »Wer hat Tipps zur Stärkung des Immunsystems? Wenn es schon Regierung und Medien nicht tun.«

Hä? Ja, das habe ich auch gedacht. Ich meine, es ist ja wunderbar, das Immunsystem zu stärken und auch ganz großartig, Empfehlungen zu sammeln, wie man das anstellen könnte. Aber was haben »Regierung und Medien« damit zu tun? Genau diese Frage wollte ich stellen, hab’s dann aber doch nicht getan, als ich schon bestehende Kommentare gelesen habe und mir dann die anderen Posts dieser Person angesehen habe. Da ist jemand offensichtlich sehr, sehr ängstlich, hat eine sehr, sehr spitze Zunge und ein enorm großes Talent dafür, Zusammenhänge zwischen Themen zu konstruieren, zwischen denen es keine gibt. Das ist für mich verdammt nah dran an Verschwörungserzählungen. Puh. So habe ich mich also auf meine Hände gesetzt und nichts geschrieben, denn mein Kommentar hätte die Situation sicher nicht verbessert. Weder die des Verfassers, noch meine und auch nicht die der Mitleser.

Nichts bleibt für immer

Aushalten als Meditation

Ich habe mich also entschieden, es einfach auszuhalten. Und ich bemühe mich auch, zu vergessen, wer es gepostet hat. Das ist vermutlich die gesündeste Art, damit umzugehen.

Witzigerweise habe ich fast zeitgleich einen charmanten Artikel über Meditation gelesen. Darin wurde erfrischend pragmatisch und wenig esoterisch die Funktionsweise erklärt. Demnach ist Meditation genau das: das Aushalten von unbehaglichen Momenten. Man nimmt sie zur Kenntnis, hält sie aber nicht fest, sondern lässt sie ganz einfach weiterziehen. So gesehen sollten wir vielleicht einfach alle gegen die Krise meditieren. OM.