Carin Müller bloggt ...

Schreibmythos: Shitty First Draft

Sind die ersten Romanentwürfe wirklich immer für die Toilette?

»Schreib einfach. Völlig egal, wie es sich liest, die Hauptsache du produzierst Text. Der erste Entwurf deines Romans ist sowieso immer schlecht.« So lautet sinngemäß der Ratschlag, der in so gut wie jedem Schreibratgeber ziemlich weit vorne steht.

Ich verstehe durchaus die Intention dahinter: Novizen (und auch erfahrenen Schreiberlingen) soll damit die Angst vor der leeren Seite genommen werden. Oder den Impuls eindämmen, das Manuskript abzubrechen, wenn eine Flaute eintritt (was in der Regel wirklich IMMER passiert).

Im anglophonen Raum, speziell in den USA ist man noch radikaler. Dort gehen wirklich so gut wie jeder Schreibguru und sehr viele Autor*innen wie selbstverständlich vom »shitty first draft« aus, also davon, dass der erste Schreibdurchgang eines jeden Romanprojekts buchstäblich für die Tonne oder wohl eher für die Toilette ist. Angeblich entsteht ein guter Roman erst nach mindestens drei bis fünfundneunzig Überarbeitungsdurchgängen.

Nicht falsch verstehen, ich bin sehr dafür, sein Werk gründlich zu überarbeiten und dafür auch Profis (Lektoren und Korrektoren) zu nutzen, aber was ist denn das bitte schön für ein absurdes Dogma?

Viele Wege führen nach Rom zum Roman

Sollte man die Schreibenden nicht lieber dazu ermutigen, ihren eigenen Weg zu finden? So gibt es tatsächlich Kolleg*innen, die im ersten Durchgang ihre Geschichte in Windeseile fast auf die Seiten ... ko ... extrahieren und anschließend alles gründlich und mit deutlich mehr Ruhe aufpolieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber doch auch nicht gegen die Strategie, sich bereits im ersten Entwurf Mühe zu geben und an den Formulierungen zu feilen, oder?

Es gibt Autor*innen, die diktieren ihr ganzes Skript, manche nur einzelne Passagen. Andere schreiben alles per Hand in ein Notizbuch und überarbeiten dann beim Übertragen. Es gibt Schreibende, die erst ihre Lieblingsszenen zu Papier bringen und dann die Übergänge tippen. Andere schreiben grundsätzlich linear – fangen also am Anfang an und hören am Ende auf. All diese Techniken funktionieren. Genau wie planende und entdeckende Schriftsteller*innen gleichermaßen zum Ziel kommen und gute Bücher produzieren (obwohl die meisten der »shitty first draft«-Ratgeber auch unbedingt für einen präzise strukturierten Plot werben).

Warum kann man das nicht einfach anerkennen und feiern?

Man darf sich auch Mühe geben!

Es ist witzig, wenn man sich mit englischsprachigen Kolleg*innen austauscht und manche fast schon verschämt zugeben, dass sie ihren ersten Entwurf meistens schon ziemlich bombig finden und trotz aller Mühe, kaum Änderungsansätze bei der Überarbeitung finden. Statt darauf stolz zu sein, ist es ihnen peinlich und entschuldigen sich mit Aussagen à la »ich hab ja schon so viele Romane geschrieben, das macht alles die Routine« oder »ich habe einfach nicht die Zeit für Millionen Überarbeitungsdurchgängen«.

Dabei ist es doch großartig, wenn man bereits im ersten Durchgang alles für seine Geschichte gibt – auch wenn es sich oft wie ein Kampf anfühlt und womöglich deutlich länger dauert als eine halbgare »shitty« Version. Entscheidend ist, meiner Meinung nach nur, dass am Ende eine gute und runde Geschichte herauskommt.

So mach’s ich

Von meinen ersten zwei oder drei Romanen mal abgesehen, produziere ich IMMER eine mindestens 95-Prozent-Version im ersten Durchgang, d.h. es gibt maximal fünf Prozent Änderungen in der Überarbeitung. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Verlagsbücher oder selbstpublizierte Geschichten sind und auch nicht, ob die Bücher eher anspruchsvoll oder vorwiegend unterhaltsam sind. Es ist einfach meine Art zu schreiben. Und die ist genauso valide wie alle anderen Arten. Egal, was vermeintliche »Gurus« behaupten.

Fazit:

Der »shitty first draft« ist ein gutes Mittel, Anfänger zum Durchhalten zu motivieren, als Dogma ist dieser Schreibmythos für mich jedoch vollkommen durchgefallen!