Schreibmythos: Show, don’t tell

10.2.2025
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Der Lieblingsspruch der allermeisten Lektor*innen lautet: »Da ist mir zu viel Tell drin, da muss mehr Show rein!« Und nein damit ist keine schräge Willhelm-Tell-Revue gemeint (obwohl ich diese Idee wiederum ganz reizvoll fände ...), sondern das gefühlte Nummer-1-Dogma der Schreibzunft: Show, don’t tell! Übersetzbar etwa mit: Zeige es, erzähle nicht nur davon!
Dieser Grundsatz gilt als einer der Grundpfeiler des modernen Schreibens. Schreibcoaches, Literaturkritiker, Lektorinnen und nicht wenige Autor*innen propagieren ihn als das Nonplusultra bei der Erschaffung lebendiger und mitreißender Geschichten. Die Idee dahinter ist simpel: Anstatt der Leserschaft direkt zu sagen, was passiert oder wie sich Figuren fühlen, soll durch konkrete Szenen, Dialoge und Handlungen ein Bild erzeugt werden, das die Lesenden aktiv in die Geschichte hineinzieht. So weit, so gut und so nachvollziehbar. Doch ich frage mich, ob dieses Dogma wirklich universell anwendbar ist – oder ob es Situationen gibt, in denen ein direktes Erzählen sinnvoll, ja sogar notwendig ist?
Das Prinzip »Show don’t tell« im Detail
Was genau bedeutet »zeigen«?
»Zeigen« heißt, den Leser*innen durch lebendige Beschreibungen, Handlungen und Dialoge unmittelbare Einblicke in die Welt der Geschichte zu gewähren. Ziel ist eine emotionale Verbindung zwischen Leser*in und der Geschichte. Die Person vor den Buchseiten kann sich dabei ein eigenes Bild vom Geschehen machen.
Statt also einfach nur »Anna war traurig« zu schreiben, könnte eine Szene beschrieben werden, in der Annas Tränen ihre Wangen hinunterlaufen, während sie an einem verregneten Fenster steht und ins Leere starrt. So wird die Emotion nicht direkt benannt, sondern durch Details und Atmosphäre vermittelt.
Die Vorteile des Zeigens
- Emotionale Tiefe: Indem der Leser die Szenen selbst interpretiert, entsteht oft eine intensivere emotionale Beteiligung.
- Immersion: Durch konkrete Details wird die Welt glaubwürdiger und greifbarer.
- Aktives Erleben: Leserinnen werden zu Mitgestaltenden, da sie durch die beschriebenen Eindrücke selbst Schlüsse ziehen und sich in die Geschichte hineinversetzen.
Drei sinnvolle Anwendungsbeispiele
1. Szenische Darstellung:
Tell: Mark war nervös vor dem ersten Arbeitstag.
Show: Mark rieb seine schweißfeuchten Hände an der Hose seines nagelneuen Anzugs ab und hoffte, dass auf dem hellgrauen Stoff keine Flecken entstanden. Sein Herz schlug schneller, als er sich vorstellte, wie ihn die neuen Kollegen gleich taxieren und in Sekundenschnelle ihr Urteil über ihn fällen würden.
In der zweiten Version erlebt man Marks Nervosität direkt mit – ohne dass die Autorin explizit sagt, wie er sich fühlt.
2. Dialog und nonverbale Kommunikation:
Dialoge können ebenfalls eine starke Wirkung entfalten. Statt zu erzählen, dass zwei Charaktere eine angespannte Beziehung haben, kann man durch knappe, bedeutungsschwere Dialogzeilen und subtile nonverbale Hinweise – wie z. B. ein abweisender Blick oder ein zögerliches Lächeln – diese Spannung andeuten.
3. Innere Monologe und Details:
Selbst in inneren Monologen kann »Show don’t tell« angewandt werden, indem Gedanken nicht direkt erklärt, sondern durch sinnliche Eindrücke und Erinnerungen angedeutet werden. Statt zu schreiben, »Sie erinnerte sich an den Verlust ihrer Mutter«, könnte man andeuten:
»Der vertraute Duft von Lavendel und die sanfte Berührung eines unsichtbaren Windhauchs ließen in ihr die bittersüße Erinnerung an nicht mehr geführte Gespräche und verpasste Abschiede aufleben.«
Kritik am Dogma: Wann ist »erzählen« sinnvoll?
Obwohl »Show don’t tell« zweifellos viele Vorteile bietet, gibt es Situationen, in denen direktes Erzählen nicht nur akzeptabel, sondern sogar wünschenswert ist:
1. Informationsvermittlung und Tempo:
Manchmal ist es wichtig, der Leserschaft schnell und präzise Hintergrundinformationen oder Übergänge zu vermitteln. Lange, detailreiche Beschreibungen können das Tempo bremsen und den Fokus der Geschichte verlieren lassen. Ein knappes Erzählen kann hier helfen, die Handlung voranzutreiben, ohne die Lesenden zu überfrachten.
2. Innere Gedanken und Zusammenfassungen:
Nicht alle Gedanken und Erinnerungen lassen sich durch Szenen wirkungsvoll zeigen. Oft ist es notwendig, innere Zustände oder komplexe Sachverhalte in wenigen Sätzen zusammenzufassen. So kann die Erzählerin dem Leser einen Überblick verschaffen, ohne in langatmige Rückblenden abzudriften. (Natürlich gilt das auch für den Erzähler und die Leserin.)
3. Stilistische Vielfalt:
Jede Autorin und jeder Autor hat einen eigenen Stil und hoffentlich eine individuelle Stimme. Ein zu rigides Festhalten an »Show don’t tell« kann manchmal zu einer überladenen Prosa führen, in der der Fokus auf Beschreibungen liegt, anstatt auf der eigentlichen Geschichte. Ein bewusster Wechsel zwischen Zeigen und Erzählen kann dazu beitragen, den Text abwechslungsreicher und dynamischer zu gestalten.
Fazit
»Show don’t tell« ist ein mächtiges Werkzeug im Arsenal von Autor*innen, das die Qualität und Intensität einer Erzählung erheblich steigern kann. Dennoch halte ich es für falsch, es als starres Dogma zu verstehen, als einziges Merkmal von Qualität. Es ist schlicht eine von vielen Techniken im kreativen Schreibprozess. Die Kunst liegt darin, zu wissen, wann es angebracht ist, dem Publikum Details und Emotionen durch Szenen zu vermitteln, und wann ein direktes Erzählen dazu beiträgt, die Geschichte klarer und prägnanter zu machen.