Carin Müller bloggt ...

Die Wahrheit hinter 7 Schreibmythen

und warum man die meisten einfach vergessen kann

Es gibt ja diese vermeintlich gut gemeinten Ratschläge, die einem als Schreibanfänger:in überall begegnen. In Schreibratgebern. In Foren. In Podcasts. In Social Media. Oder von Leuten, die noch nie in ihrem Leben einen Roman geschrieben haben, aber ganz genau wissen, wie es geht.

Manche dieser Tipps helfen tatsächlich. Andere … na ja, eher nicht. Und dann gibt es diese ganz hartnäckigen Mythen über das Schreiben, an die ich selbst irgendwann mal geglaubt habe – bevor ich festgestellt habe: Es geht auch anders. Zum Glück. Nach über 40 Romanen traue ich mir zu, ein paar dieser »Regeln« zu entmystifizieren.

Hier sind sieben dieser Schreibmythen, die ich gerne früher gekannt hätte – um sie dann ganz schnell wieder zu vergessen.

1. Echte Autor:innen haben immer einen Plan!

Ach ja, der Mythos vom perfekten Plot. Wer ernsthaft schreibt, so heißt es, hat alles von Anfang bis Ende durchgeplant: Figurenentwicklung, Spannungsbögen, Subplots, Cliffhanger.

Tja. Schön wär’s.

In Wahrheit entstehen viele gute Geschichten beim Schreiben selbst. Figuren entwickeln ein Eigenleben, Szenen verlaufen anders als gedacht, und nicht selten führt ein spontaner Gedanke zu einer viel besseren Wendung als alles, was man vorher geplant hatte.

Planen ist gut. Aber nur, wenn der Plan auch Platz für Überraschungen lässt.

Allerdings gibt es tatsächlich Menschen, die unbedingt vor dem ersten Satz eine feste Struktur brauchen. Die »Plotter« (denen übrigens gefühlt 95% aller Schreibratgeber gewidmet sind) lieben häufig sogar das Planen viel mehr als das eigentliche Schreiben. Und das ist okay, denn es gibt viele Wege zum Ziel. Ich persönlich habe eine regelrechte »Plot-Sperre«, mir reicht in der Regel ein ganz vages Konzept. Das kann eine Figur sein, eine Szene, ein Dialogfetzen oder auch ein Handlungsort – und dann lege ich einfach los.

Will heißen: Wer gerne einen Plan haben möchte, soll einen machen. Aber es geht definitiv auch ohne. Von meinen über 40 Romanen habe ich nur einen einzigen (den ersten) geplottet!

2. Du musst nur genug Disziplin haben!

Klingt so herrlich einfach: Setz dich hin, schreib, fertig.

Aber Schreiben ist eben nicht nur ein Fleißjob. Es ist auch Denken, Zweifeln, Ausprobieren, manchmal Verwerfen. Wer glaubt, Schreiben sei reine Selbstdisziplin, ignoriert einen wichtigen Teil des kreativen Prozesses: den Raum für Langeweile, für Unfertiges, für Entwicklung.

Natürlich braucht es ein bisschen Sitzfleisch. Aber genauso braucht es Pausen, Spaziergänge, Gespräche und ja – auch mal Prokrastination.

Wer allerdings – wie ich – dazu neigt, ohne Deadline im Zweifel GAR NICHTS zu schreiben, muss einen Weg finden, sich selbst zu überlisten. Mir persönlich helfen verbindliche Abgabetermine (die ich mir auch selbst setzen kann) und klar definierte Tagesziele. Stehen 2.000 Wörter im Kalender, dann erledige ich die auch – obwohl Disziplin nun wahrlich nicht zu meiner Kernkompetenz gehören.

Was ich neulich ausprobiert habe, ist der total niederschwellige Rat von Becca Syme, einer amerikanischen Coachin: »Kannst du den nächsten Satz in deinem Manuskript schreiben? Nur den einen Satz?« Lautet die Antwort ja (und erstaunlicherweise lautet sie bei mir fast immer ja), ist die Blockade praktisch schon überwunden. Lautet sie nein, dann bringt es auch nichts, sich zu zwingen, egal mit wie viel Disziplin. Dann muss man tiefer graben und noch ein paar Runden nachdenken.

3. Ohne feste Schreibroutine geht gar nichts!

Routinen sind toll. Wenn sie funktionieren.

Aber das Leben schreibt eben seine eigenen Drehbücher. Und manchmal ist es schon ein Erfolg, überhaupt irgendwo ein paar Zeilen unterzubringen – im Wartezimmer, zwischen zwei Zoom-Meetings oder auf dem Handy in der U-Bahn.

Eine Schreibroutine ist kein magisches Ritual, das über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Sie ist ein Werkzeug. Und Werkzeuge darf man anpassen – oder auch mal zur Seite legen.

Ehrlich, ich bin immer total frappiert, wenn mir Kolleg:innen von ihren Schreibroutinen erzählen: Da wird sich aufwendig mit einer Morgenmeditation, einer Kanne Kräutertee und einer ganz speziellen Duftkerze in Stimmung gebracht (oder konditioniert?), und erst wenn all diese Rahmenbedingungen stimmen, können sie schreiben.

Ich finde das total faszinierend und wenn diese Rituale ähnlich wie eine Konditionierung funktionieren (man erinnert sich an die Pawlowschen Hunde, die irgendwann schon sabberten, wenn lediglich das Glöckchen bimmelte), dann sind sie ein Versuch wert. Mir persönlich wären sie zu einschränkend. Aber mich motiviert ja ohnehin nur eine Deadline und wenn die nur nahe genug kommt ...

4. Gute Bücher schreiben sich quasi von selbst!

Das möchte ich immer noch soooooo gerne glauben! Wirklich. Der berühmte Flow-Zustand. Diese magischen Momente, in denen alles leicht geht und die Worte nur so fließen.

Gibt es.

Ist selten. Leider.

Und erfahrungsgemäß trägt selbst der rauschhafteste Flow nur ein paar Seiten (mit Glück ein paar Kapitel) weit. Danach kommt meistens: Arbeit. Überarbeiten. Löschen. Neu schreiben. Fluchen. Und Kaffee.

Kein gutes Buch entsteht nur im Flow. Gute Bücher entstehen vor allem, wenn man dranbleibt – auch, wenn’s gerade nicht fließt.

Und noch eine frustrierende Erkenntnis: Szenen, die ich im Flow geschrieben habe, sind nicht zwangsläufig brillant. Manchmal ganz im Gegenteil. Da tröstet mich nur, dass ich Bücher, die ich praktisch von Anfang bis Ende nur mit Blut, Schweiß und Tränen verfasst habe, verdammt gut geworden sind – obwohl es sich beim Schreiben einfach nur qualvoll angefühlt hat.

5. Talent schlägt alles!

Ach ja. Die Sache mit dem Talent. Das ist vielleicht einer der gefährlichsten Mythen überhaupt.

Denn ja, Talent hilft. Es macht bestimmte Dinge vielleicht etwas leichter. Aber ohne Übung, ohne Lernbereitschaft, ohne Geduld wird aus Talent kein fertiges Buch. Meist nicht einmal ein fertiges Kapitel oder ein Blogartikel wie dieser hier. Denn Talent, also ein womöglich angeborenes besonderes Sprachgefühl, hilft überhaupt nicht weiter, wenn man keine Ahnung hat, wie ein Roman, ein Artikel aufgebaut werden muss.

Schreiben ist nämlich vor allem ein Handwerk. Und das Schöne an Handwerk ist: Man kann es lernen, verbessern, verfeinern. Immer wieder. Bis man es irgendwann zur Meisterschaft bringt – und dann trotzdem immer weiter lernt. Von Buch zu Buch, von Roman zu Roman, von Projekt zu Projekt.

6. Man muss nur sich selbst treu bleiben!

Klingt wunderschön. Und stimmt auch – bis zu einem gewissen Punkt.

Denn wer veröffentlicht, schreibt nicht nur für sich. Leser:innen haben Wünsche, Erwartungen, Lieblingsmotive. Und das zu ignorieren kann ganz schön einsam machen.

Authentisch zu schreiben heißt nicht, völlig im luftleeren Raum zu schweben. Es heißt, seine eigene Stimme zu finden – aber trotzdem zu wissen, für wen man eigentlich schreibt.

Zu diesem Punkt habe ich mir schon in einem früheren Artikel ausführliche Gedanken gemacht. Lies sie gerne nach in »Schreibmythos Authentizität«.

In diesem Punkt bin ich aber tatsächlich eher beim Dogma, denn auch wenn man idealerweise gewisse Marktbedürfnisse im Auge haben sollte (jedenfalls dann, wenn man auch Geld verdienen will), ist es für mich wahnsinnig wichtig, immer bei mir zu bleiben. Was nicht bedeutet, dass ich nur über Dinge schreibe, mit denen ich mich auskenne (das wäre sehr einseitig und unfassbar langweilig), sondern über alles, was in erster Linie MICH bewegt und interessiert. Im Idealfall geht die Leserschaft diesen Weg dann mit.

7. Irgendwann weißt du, wie es geht!

Hahaha. Wirklich: Hahaha.

Jedes neue Buch ist wieder ein kleines Abenteuer. Andere Figuren, andere Themen, andere Probleme. Was beim letzten Projekt funktioniert hat, muss diesmal überhaupt nicht helfen.

Und das ist eigentlich das Schönste am Schreiben: Es bleibt spannend. Herausfordernd. Lebendig.

Und deshalb gibt es von mir auch so viele wahnsinnig unterschiedliche Geschichten. Sobald ich das Gefühl habe, dass ich weiß, wie es geht, meldet sich die kleine, fiese innere Stimme und flüstert mir Dinge ins Ohr à la »Wie wär’s mal mit einer historischen Zeitebene im zeitgenössischen Krimi?« (oder überhaupt ein Krimi – hätte ich bis vor kurzem nicht für möglich gehalten) oder »Warum nicht mal was mit Drachen?« (obwohl meine innere Stimme weiß, dass ich Drachen doof finde).

Also genieße ich den Zustand, dass ich wohl nie wirklich wissen werde, wie es geht und immer wieder überrascht bin. Im Zweifel von mir selbst.

Wenn du also gerade das Gefühl hast, überhaupt nichts zu wissen – herzlich willkommen im Club. Das gehört dazu.

Fazit: Schreibmythen sind wie Schreibregeln – sie gelten, bis sie es nicht mehr tun.

Vielleicht hätte ich all diese Mythen gerne früher gekannt. Vielleicht hätte ich mir manchen Umweg erspart. Vielleicht aber auch nicht.

Denn Schreiben lernt man nicht (nur) aus Ratgebern – sondern vor allem, indem man es tut. Immer wieder. Mit allen Irrtümern, Erkenntnissen, Umwegen und ja, auch mit allen eigenen kleinen Plot-Twists.