Carin Müller bloggt ...

Be a Lady

Be A Lady

Ein Feminismus-Artikel mitten in der Corona-Krise? Muss das denn wirklich sein? Ja, muss es! Dringend sogar. Denn die Ungerechtigkeit hört ja nicht auf, nur weil gerade ein Virus unser aller Leben bedroht – auch wenn es Covid-19 allem Anschein nach bevorzugt auf ältere Männer abgesehen hat.

Gerade in dieser total irren Zeit wird wieder deutlich, wie prekär die Situation vor allem für Frauen ist. Frauen verdienen im reichen Deutschland, das während der letzten zehn Jahre vor lauter Wirtschaftswachstum kaum noch wusste, wohin mit der Kohle, nach wie vor im Schnitt 20 Prozent weniger als Männer (wer richtig schlechte Laune bekommen möchte, liest die genauen Zahlen beim Statistischen Bundesamt nach). Das bedeutet natürlich auch, dass sie im Falle von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit entsprechend weniger Geld erhalten. Gleichzeitig ist die überwiegende Zahl der Alleinerziehenden weiblich und auch in intakten Familienverbänden sind es zum Großteil die Frauen, die sich darum kümmern müssen, die Kinder bei Laune zu halten und sie zu unterrichten. Neben ihrer Homeoffice-Tätigkeit. Und dem Haushalt. Versteht sich. Und in ihrer »Freizeit« nähen sie dann auch noch Masken und gehen auf die Jagd nach Klopapier.

Ist das gerecht?

Natürlich nicht. Das werden auch die wenigsten Menschen bestreiten. Und doch ahne ich, dass vergleichsweise wenige meiner vorwiegend weiblichen Leserinnen diesen Artikel überhaupt lesen werden. Weil es anstrengend ist. Weil es frustrierend ist. Und weil es noch schlechtere Laune macht.

Schlechte Laune ist überhaupt scheiße. Fühlt sich scheiße an, sieht scheiße aus (die Zornesfalte!!) und macht nur wütend. Und Wut ist eine Emotion, die bei Frauen gar nicht geht!

  • Wer als Frau wütend ist, wird nicht ernstgenommen.
  • Wer als Frau wütend ist, wird als hysterisch bezeichnet.
  • Wer als Frau wütend ist, wird gemieden.

Übrigens nicht nur von Männern, sondern in hohem Maße auch von anderen Frauen. Uns wurde von klein auf eingebläut, dass wir im Leben nur dann weiterkommen, wenn wir nett, lieb und angepasst sind. Wenn wir dagegen auf den Tisch hauen, lautstark unseren Frust herausbrüllen oder – Gott bewahre! – sogar Forderungen stellen, können wir eigentlich schon einpacken. Teresa Bücker hat zur weiblichen Wut im SZ-Magazin einen sehr eindringlichen Artikel geschrieben, der diese Perfidie besonders deutlich macht.

Wir Frauen haben diese patriarchal geprägte Rollenvorstellung, wie frau sich zu benehmen hat, derart verinnerlicht, dass wir selbst zu den schärfsten Sittenwächterinnen wurden. Statt dass wir uns mit wütenden Frauen solidarisieren, würdigen wir sie herab. Im Grunde sind Männer gar nicht mehr nötig, um Frauen zu unterdrücken und kleinzuhalten, das schaffen wir schon ganz allein.

Be A Lady They Said

Das bringt mich zum nächsten Thema. Einige werden sich vielleicht an das Video erinnern, das kurz vor der Corona-Krise viral ging. Die amerikanische Schauspielerin Cynthia Nixon deklamiert darin das Gedicht »Be A Lady They Said« der 22-jährigen Studentin Camille Rainville.

»Dein Rock ist zu kurz. Dein Shirt ist zu lang. Zeig nicht so viel Haut. Zieh dir mehr an. Sei eine Lady, haben sie gesagt.« Mit diesen Aussagen beginnt das Gedicht, und über zwei Minuten lang werden all die Widersprüche aufgelistet, mit denen wir Frauen permanent konfrontiert werden. Wir sollen sexy sein. Wir sollen tugendhaft sein. Wir sollen tough sein. Wir sollen anschmiegsam sein. Bloß nicht zu laut, aber auch nicht zu leise. Wir sollen nicht nur im Salat stochern, aber auf gar keinen Fall Kohlenhydrate essen. Wir sollen eigentlich gar nicht essen. Aber trotzdem total natürlich sein. Idealerweise in schwindelerregenden High Heels. Die aber nicht nuttig wirken dürfen ...

Es ist klar, dass niemand diesen Rollenvorstellungen entsprechen kann. Aber frau soll es wenigstens versuchen. Denn nur dann wird sie geliebt. Oder wenigstens anerkannt. Oder, na schön, ertragen. Von Männern und von anderen Frauen.

Ich will nicht ungerecht sein. Auch Männer müssen sich mit widersprüchlichen Rollenbildern auseinandersetzen, aber NIEMALS sind sie diesem Dauerfeuerwerk von Ansprüchen ausgesetzt, die kurz nach der Geburt beginnen und erst im Sarg enden.

Verdammt noch mal, kann es denn angehen, dass sich die Hälfte der Weltbevölkerung permanent mit diesem Mist auseinandersetzen muss? Ich will wütend sein dürfen, wenn ich wütend bin. Ich will lieben, lachen, weinen, toben, schreien, kichern, trösten, kuscheln – aber ich will mir keine Gedanken darüber machen müssen, ob das jetzt ein angemessenes Verhalten ist oder nicht!

Rollenbilder im Buch

Das alles gilt natürlich nicht nur fürs wahre Leben. Fast noch schlimmer ist es in der fiktionalen Welt, in der ich mich berufsbedingt ebenfalls recht ausgedehnt aufhalte. In all meinen Büchern gibt es wichtige Frauenfiguren! Ich betone das deshalb, weil es tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist. Gerade in Romanen, die von Männern geschrieben werden (aber auch in denen einiger Kolleginnen), spielen Frauen oft gar keine oder eine erschreckend geringe Rolle. Das Gleiche gilt übrigens auch für Filme, aber das ist hier nicht mein Thema.

Zurück zu meinen Romanen, in denen es immer um starke weibliche Figuren geht. Ich bemühe mich dabei, sie so differenziert und komplex wie möglich darzustellen, ihnen Ecken und Kanten zu geben, und auch mal charakterliche Schwächen. Doch da begebe ich mich bereits auf dünnes Eis. Charakterschwächen à la Tollpatschigkeit sind in Ordnung, aber schlecht gelaunt, überspannt und frustriert dürfen maximal die Antagonistinnen sein. Protagonistinnen müssen Projektionsflächen für Leserinnenerwartungen sein, man muss sich mit ihnen identifizieren können oder zumindest wollen. Da darf die Heldin vielleicht mal chaotisch und vergesslich sein, aber bestimmt nicht wütend und biestig – auch wenn sie noch so viele und gute Gründe dafür hätte.

Wenn meine Agentin oder eine Lektorin anmerkt, dass Figur XY »manchmal ein wenig unsympathisch rüberkommt« und sich das schlecht verkaufen wird, kriege ich einen Hals der dicker ist, als der eines Hamsters kurz vorm Winterschlaf. Da kann ich mich stundenlang darüber aufregen, dass tolle, selbstbewusste, erfolgreiche Frauen (Agentinnen, Lektorinnen) von einer selbstbewussten und wenigstens mittelerfolgreichen Frau (Autorin) verlangen, eine Romanfigur netter und anschmiegsamer anzulegen. Das ist auf so vielen Ebenen scheiße (ja, ich benutze dieses Wort oft und auch ganz bewusst!), dass ich gar nicht weiß, wo ich bei der Aufzählung anfangen soll.

Und doch: Sie haben recht! Leserinnen wollen keine komplexen, schwierigen Frauenfiguren in Büchern! Zumindest nicht in Unterhaltungsromanen. Punkt. Ich will die auch nicht! Ja, richtig gelesen. Ich lasse mich als Leserin auch nur ungern mit (m)einer möglichen dunklen Seite konfrontieren! Die jahrzehntelange Gehirnwäsche hat tippitoppi funktioniert. Vielen Dank auch.

Was tun also?

Wie man dieses Dilemma lösen kann, dürfte vermutlich ähnlich kompliziert wie die Suche nach dem goldenen Gral (oder auch dem güldenen Vlies und vergleichbaren unerreichbaren Mythen) sein. Ich will es mit positiven neuen Rollenvorbildern versuchen, die auf unaufgeregte und ziemlich subtile Art und Weise die Botschaft transportieren, dass es okay ist, wenn man ein bisschen außerhalb der Norm läuft. Natürlich sind es winzige Babyschritte, aber vielleicht helfen die ja schon. Radikale Meinungen kann ich privat oder in Artikeln wie diesen vertreten, aber nicht in meinen Unterhaltungsromanen. Leider.

Mir ist noch ein kleiner Trick eingefallen: Nehmt die Männer mit ins Boot! Viele meiner männlichen Charaktere entsprechen nämlich überhaupt nicht der Norm – oft auf deutlich radikalere Weise, als meine Frauenfiguren. Aber da man (und frau!) bei Männern und männlichem Verhalten schon immer toleranter war, funktioniert das auch im Roman. So schaffe ich also neue Traummänner, die durch ihr Auftreten und ihr Verhalten, den Frauenfiguren Entfaltungsmöglichkeiten bieten, die sie sonst nicht hätten.

Schräg, oder? Aber vielleicht ist das der einzige Weg, wie wir Frauen zu einem gesünderen, besseren Selbstbild finden: Indem wir die Männer zur Abwechslung mal instrumentalisieren! Könnte auch im wahren Leben funktionieren ...

Wie seht ihr das?

Ich fürchte, das werde ich nie erfahren, denn meine Statistik wird es mir beweisen: Dies wird ein Artikel sein, den kaum jemand anklickt oder gar bis zum Ende liest. Mir war’s trotzdem wichtig, diese Dinge loszuwerden.

Falls trotzdem jemand mit mir darüber diskutieren will, kann mir gerne schreiben oder es auf allen sozialen Medien tun.