Carin Müller bloggt ...

Was ich beim Schreiben gelernt habe

Was man beim Schreiben nicht können muss

Zahlreiche Schreibratgeber empfehlen: »Schreibe, was du kennst!« Dieser Tipp wird mal als freundlicher Ratschlag formuliert, mal als unumstößliches Dogma, denn schließlich soll doch auch der sprichwörtliche Schuster bitte schön bei seinen Leisten bleiben.

Würde ich mich als mittelalte, heterosexuelle, kinderlose, verheiratete weiße Mitteleuropäerin an diese Lehrmeinung halten, hätte ich die meisten meiner Geschichten gar nicht erst schreiben dürfen. Meine Romane wären von leicht übergewichtigen, mit seltsamen Humor ausgestatteten Journalistinnen und Autorinnen bevölkert, die innige Beziehungen zu ihren Hunden pflegen. Das kann funktionieren. Ein Buch lang. Vielleicht auch zwei. Aber spätestens dann, gäbe meine persönliche Expertise nicht mehr viel Stoff her.

Recherche, Empathie, Fantasie

Gerne argumentieren Anhänger dieser »Bleib ganz bei dir«-These, dass man damit nicht so leicht angreifbar wird, nicht Gefahr läuft, sich der kulturellen Aneignung schuldig zu machen. Schließlich kann sich doch, überspitzt formuliert, eine 50-jährige, kinderlose, weiße Frau niemals ernsthaft in die Lebenswirklichkeit eines 25-jährigen, drogenabhängigen, schwarzen Rappers einfühlen, der pansexuell ist und sich um seinen dreijährigen kleinen Bruder kümmern muss. Tatsächlich? Unsinn!

Wir sprechen hier schließlich über Fiktion. Erfundene Geschichten über erfundene Menschen, die nur existieren, weil meine Fantasie sie geboren hat. Natürlich darf ich als seriöse Journalistin keine Reisereportage über einen Ort schreiben, den ich niemals besucht habe, Tatsachen behaupten, die jeder Grundlage entbehren oder Interviews erfinden, weil der Gesprächspartner keine Zeit für mich hatte. Wobei all das leider auch immer wieder vorkommt.

In der (Unterhaltungs)Literatur darf (muss!) ich das alles aber sehr wohl. Als Romanautorin spreche ich nicht für eine spezifische Gruppe (das würde ich mir auch im wahren Leben nicht anmaßen), sondern für meine erfundenen Figuren. Selbstverständlich sind Recherche, Empathie und Fantasie dabei essentiell, um authentische Protagonist*innen zu kreieren. Zweifellos schaden auch ein wenig Lebenserfahrung und Gespräche mit echten Menschen nicht, aber letztlich entspringt alles meinem Kopf. Und sollte mir irgendwann einmal nach einem pansexuellen Schwarzen mit Drogenproblem, Kind und Rapper-Attitüde als Hauptdarsteller sein, dann wird er ein komplexer, glaubwürdiger und liebenswerter Charakter werden. Allein schon deshalb, weil es mein verdammter Job ist.

Echte Lernerfahrungen beim Schreiben

Schreiben ist für mich also nicht deshalb spannend, weil ich lediglich mein eigenes, vergleichsweise langweiliges Leben wieder und wieder reproduziere, um ja niemandem auf den Schlips zu treten, sondern weil ich ständig etwas dazu lerne.

Zunächst einmal handwerkliche Dinge. Ich verbessere meine Schreibroutinen, wage mich an unterschiedliche Perspektiven oder auch den Blick auf andere Genres. Von Roman zu Roman fühle ich mich sicherer im Schreiben. Ich weiß, dass ich vorher nicht zwangsläufig plotten muss, weil ich einen über die Jahre geschärften Sinn für Dramaturgie habe, der mich sicher durch meine Geschichten navigiert. Ich weiß aber auch, dass es wichtig ist, wenn ich mich gelegentlich aus meiner Komfortzone herauswage und neue Dinge ausprobiere.

Zudem lerne fast nebenbei auch ganz konkrete Dinge: Was macht eine Botanikerin? Wann ist der beste Zeitpunkt, um Alpakas zu scheren? Sollte man Wale beim Whale Watching anfassen? Oder beim Tauchen mit Robben kuscheln? Was ist eine Springflut? Wie funktioniert ein Webstuhl? Wo hat man rund um Vancouver Island die beste Chance auf eine Walbegegnung? Wie lange können Drohnen fliegen, wenn man sich selbst auf einem bewegten Untergrund (z.B. einem Schiff) befindet? Welche Disziplinen gibt es bei Highland Games? Wie geht man in Kanada mit den indigenen Völkern um? Wie viel Korruption gibt es bei afrikanischen NGOs? Welche Weinsorten wachsen auf den Scilly-Inseln? Welche in Südafrika? Wie macht man Whisky? Und wie Gin? Um nur einige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen.

Macht mich das zur Expertin? Sicherlich nicht. Aber es reicht, um plausible, dichte Geschichten zu ersinnen, und es macht mich zur unterhaltsamen Gesprächspartnerin.

Eigene Erfahrung hat auch Grenzen

Spätestens wenn ich auf andere Genres schaue, die ich selbst (noch) nicht bediene, wird klar, wie albern die Prämisse ist, dass Schreibende doch bitte nur im eigenen Saft sieden mögen. Literarisch gesehen, selbstverständlich. Die wenigsten Thrillerautoren sind psychopathische Serienmörder, kaum eine Autorin historischer Romane wird des Zeitreisens mächtig sein. Von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten möchte ich gar nicht erst anfangen, obwohl ich es insgeheim schon reizvoll fände, wenn Drachenbändiger, Werwölfe und reptiloide Außerirdische unter uns lebten, die nichts anderes machen, als Tatsachenberichte ihrer Lebenswirklichkeit zu Papier zu bringen.

Eigene Erfahrungen halte ich als Basis für eine erfolgreiche oder wenigstens erfüllende schriftstellerische Tätigkeit also für ziemlich irrelevant. Wir sollen der Leserschaft ja nicht zeigen, was ist (dafür wären die Nachrichten da), sondern was sein könnte. Und auf dem Weg dorthin nehme ich gerne jede Lernerfahrung mit, die sich mir bietet.