Carin Müller bloggt ...

Prokrastinieren für Fortgeschrittene

Warum Aufschieberitis besser ist als ihr Ruf

Endlich mal wieder gepflegtes Aufschieben – ich hatte schon fast vergessen, wie es geht! Jahrelang zierte mein Handy eine Schutzhülle mit der Aufschrift »procrastinate«, also »prokrastinieren« oder »aufschieben«. Diese Hülle hat mir wenigstens gelegentlich ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn ich mal wieder das Telefon zur Hand nahm, statt ernsthaft zu arbeiten.

Seit gut anderthalb Jahren ist das anders. Es fing ungefähr im Oktober oder November 2019 an – und ich war elektrisiert. Meine Agentin hatte soeben den Verlagsvertrag mit Heyne für die »Highland Hope«-Reihe (die damals noch einen ganz anderen Arbeitstitel hatte ...) eingetütet, und ich war heiß drauf, endlich meine innere Charlotte McGregor von der Leine und an die Tastatur zu lassen. Band 1 war kurz vor Weihnachten fertig, dann kamen der übliche Neujahrstrubel (mit Steuerkram und guten Vorsätzen), die bislang letzte Reise ins Ausland (nach Venedig mit vier tollen Kolleginnen) – und Corona.

Effizienz gegen Angst

Die erste Welle der Pandemie hat viele Kolleg*innen derart gelähmt, dass sie monatelang nicht schreiben konnten. Bei mir war es anders. Natürlich fand ich die Horrormeldungen ebenfalls extrem beängstigend und unheimlich, aber ich habe ganz anders darauf reagiert. Ich habe gearbeitet. Wie eine Irre. Da echte Urlaube ausfielen, bin ich eben in meinen Geschichten verreist – vorwiegend nach Schottland, später auch nach Kanada. Wenn ich zwischen zwei Romanen mal Zeit hatte, habe ich mich voller Verve dem Thema eMail-Marketing gewidmet. Habe meinen Newsletter optimiert, meine »Letters from Kirkby« erfunden und die Gewinnspiel-Serie »Swap the Romance« initiiert. Es gab Monate, da habe ich an sieben Tagen gearbeitet. Oft an die zehn Stunden am Tag. Nicht weil ich das cool fand oder ein Workaholic bin, sondern weil es mich davor geschützt hat, Angst zu haben. Und weil es mich von der Erkenntnis abgelenkt hat, dass diese Covid-Krise verdammt einsam macht.

Als mein Mann irgendwann sachte andeutete, man könne ja mal freitags früher Feierabend machen – so gegen 17 oder 17:30 Uhr vielleicht – habe ich eine regelrechte Panikattacke bekommen. Ich hatte doch sooooo viel zu tun. Wie sollte ich das alles schaffen, wenn ich nicht jeden Tag x Stunden am Projekt y arbeite? Die nächste Panikattacke folgte auf dem Fuß, als mir klar wurde, wie ungesund mein Verhalten war. In der Folge habe ich festgestellt, dass ich längst nicht so misanthropisch bin, wie ich mir gerne einrede und meine Familie und meine Freund*innen wirklich sehr, SEHR vermisse. Ich habe auch festgestellt, dass ich mit mir überhaupt nichts mehr anzufangen wusste, wenn ich nicht gearbeitet habe. Also gar nichts. Das hat mir dann richtig Angst gemacht, denn früher hatte meine Work-Life-Balance eigentlich immer ein deutliches Übergewicht auf dem »Leben«. Doch das Einzige, das jetzt noch Übergewicht hat, bin ich selbst. Das jedoch reichlich.

Warum Prokrastination kein Problem ist

Aufschieben ist besser als ablenken

Während die viele Arbeit eine prima Ablenkung gegen Corona war (und ist), hat sie doch einen entscheidenden Nachteil. Der Fokus wird immer enger. Wenn das Leben nur noch aus Schlafen (oder eben leider auch nicht) , Arbeiten, Hundespaziergängen, Einkaufen, Kochen, Lesen und Netflix besteht, verkümmert langsam etwas zwischen den Ohren. Ich glaube (ich HOFFE!), es ist nicht meine Fantasie, aber ganz sicher der Sinn für andere Perspektiven.

Während ich mich für effizient hielt (und es vermutlich auch war, wenn ich meinen Output so betrachte), starb ein großartiges Talent von mir langsam ab: meine Fähigkeit zu endloser Prokrastination! Was habe ich früher alles aufgeschoben? Newsletter, Fensterputzen, Buchhaltung, Sport, Telefonate und vor allem das Schreiben ... Stattdessen habe ich andere Sachen gemacht, die oft komplett sinnfrei waren (Tiervideos auf Youtube gucken beispielsweise), mir nicht einmal unbedingt großen Spaß gemacht, aber irgendwas in meinem Kopf zurechtgerückt haben.

Doch nun operiere ich seit Monaten mit endlosen Listen, die auf perverse Art mein inneres Belohnungssystem triggern. Wenig befriedigt mich so sehr, wie eine durchgestrichene Aufgabe auf meiner To-Do-Liste. Ich habe Redaktionspläne für meine Blogposts und meine diversen Newsletter, ich erledige immer am Monatsersten (oder am darauf folgenden Werktag) meine Buchhaltung vom Vormonat, ich schreibe oft schon tausend bis zweitausend Wörter vor der Mittagspause und kriege es dazwischen auch noch hin, zum Sport zu gehen (natürlich mit festem Termin) oder meine Mutter anzurufen (zumindest gelegentlich). Das ist zwar irgendwie toll, weil berechenbar und ökonomisch, aber irgendwie auch wahnsinnig belastend und einschränkend.

Doch seit ein paar Tagen ist alles anders. Meine Erledigungslisten werden ziemlich stiefmütterlich behandelt und ich übe mich in der hohen Schule der Selbstsabotage.

Beispiel gefällig?

Ich müsste dringend, also WIRKLICH ziemlich dringend, an meinem aktuellen Manuskript arbeiten, bei dem ich schon 15.000 Wörter (also ungefähr 60 Seiten) im Minus bin. Die letzten Wochen ging nicht viel, weil ich zwei Veröffentlichungen hatte (Hörbuch von »Lebe, als gäbe es kein Morgen« und »Lausche den Klängen meiner Seele«) und dafür vorwiegend mit Social-Media-Wallung, Newsletter-Rauschen, Lovelybooks-Leserunden und sonstigen vermeintlich wichtigen Dingen beschäftigt war. Die Wochenenden habe ich strickend verbracht (es wird ein Sommerschal – aus verdammt dünner Wolle mit verdammt dünnen Nadeln, also verdammt vielen Maschen und Reihen ...).

Heute (ich schreibe diesen Text exakt eine Woche vor Veröffentlichung) habe ich morgens den Hund zum Friseur gebracht und wollte die Wartezeit eigentlich sinnvoll nutzen – mit Recherche und Plotten für die aktuelle Geschichte. Stattdessen war ich Shoppen! So richtig in einem Geschäft. Mit Maske und Hygieneregeln, aber ohne Anmeldung und ohne Test, also absolut spontan. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das zum letzten Mal erlebt habe. Es sind zwei Sommerkleider geworden und ein T-Shirt, und danach habe ich mich absurd glücklich gefühlt.

Mit dem schwer beleidigten Hund zurück nach Hause, wäre eigentlich das Manuskript dran gewesen, doch ich konnte mich nicht einmal dazu aufraffen, es zu öffnen. Stattdessen habe ich Postkarten für meine Blogleser*innen und Newsletter-Abonnent*innen geschrieben. Bislang 78 Stück (statt der geforderten 20 auf meiner heutigen To-Do-Liste). Ich habe einer alten Schulfreundin eine Mail geschrieben, die mich auf Instagram entdeckt hatte und dort auch ziemlich viele Wal-Videos angesehen (das könnte man notfalls unter Recherche verbuchen).

Irgendwann war es dann schon kurz nach drei. An einem »normalen« Tag lägen noch mindestens vier, eher fünf Stunden Arbeitszeit vor mit. Also Zeit genug, die eigentlich geplanten 3.000 Wörter zu schreiben, doch keine Chance. Oder vielmehr: keine Lust! Stattdessen habe ich meinen Newsletter-Verteiler ausgemistet und all jene rausgeschmissen, die in den letzten sechs Monaten keine Mail mehr von mir geöffnet haben. War auch befreiend. Sollte es dich getroffen haben, kannst du dich jederzeit wieder anmelden.

Und dann kam mir die Idee, dass ich ja heute schon den Blogpost für nächste Woche schreiben könnte – und das habe ich hiermit getan. So habe ich mich mit einer halbwegs sinnvollen Arbeit vor den eigentlichen Aufgaben gedrückt. Ob ich morgen schreiben werde, weiß ich noch nicht. Es ist der Monatserste und die Buchhaltung steht an. Außerdem muss ich Hundepillen beim Tierarzt abholen. Und die Sonne wird wieder scheinen. Vielleicht prokrastiniere ich also noch ein bisschen weiter.

PS: Angst, dass ich meinen Abgabetermin nicht schaffe, habe ich übrigens nicht. Torschlusspanik motiviert mich in der Regel immer besonders und dieses Gefühl hatte ich schon sehr lange nicht mehr. Wird mal wieder Zeit ...