Privileg zu lernen
6.11.2023
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Als ich vor mehr als 30 Jahren mein Abitur gemacht habe – übrigens als erste in meiner Familie – war ich sicher: »Ich weiß ALLES! Ich habe begriffen, wie die Welt funktioniert. Ich weiß, wie der Hase läuft, und niemand, wirklich niemand kann mir noch etwas vormachen.«
Ach, die Arroganz der Jugend. Und wie kurzsichtig. Denn natürlich folgten nach dem Abi das Studium, das Leben, schier unendlich viele Herausforderungen und die schleichende Erkenntnis: »Vielleicht weiß ich doch noch nicht alles?!«
Heute mit 52 Jahren ist es noch viel schlimmer: »Ich fürchte, ich weiß gar nichts!«
Nun ist die letzte Aussage genauso falsch wie die erste, denn faktisch weiß ich heute so viel mehr als vor Jahrzehnten. Ich habe mir so viele Fertigkeiten draufgeschafft (und andere vergessen – fast alles mit Zahlen beispielsweise) und noch mehr scheinbare Gewissheiten hinterfragen müssen oder gar in Staub zerfallen sehen.
Um nicht vollkommen den Faden zu verlieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf drei Lernbereiche:
1. Für den Job lernen.
2. Fürs Leben lernen.
3. Für die Zukunft lernen.
Natürlich kann man diese Punkte nicht trennscharf voneinander betrachten, weil viele Aspekte ineinander übergreifen, ich versuche es aber trotzdem.
1. Für den Job lernen
Ich bin 1978 in die erste Klasse gekommen, und so könnte man behaupten, dass ich das nötige Handwerkszeug für meinen Beruf als Schriftstellerin spätestens so um 1980 gelernt haben dürfte: den halbwegs unfallfreien Umgang mit den 26 Buchstaben des Alphabets plus einer sinnvollen Zeichensetzung und einem mindestens intuitiven Verständnis für Grammatik.
Sagen wir’s so, das Fundament wurde damals gelegt, und glücklicherweise ist es sehr stabil und gut verankert. Allerdings habe ich im Laufe der Jahre festgestellt, dass es unfassbar viele Möglichkeiten des Schreibens gibt. So klangen meine Aufsätze in der Grundschule anders als die Textanalysen in der Oberstufe, die wiederum mit den Seminararbeiten im Germanistikstudium nur die grundlegende Struktur gemein hatten. Wenn überhaupt. Bei meinen diversen journalistischen Praktika während des Studiums habe ich eine ganz andere Art des Schreibens kennengelernt. Im Privatradio gab es nämlich erstaunlicherweise keinen Bedarf an elegant formulierten Bandwurmsätzen, die meine klugen Gedanken gewunden in den Äther senden sollten.
Stattdessen musste es plötzlich kurz, knapp, präzise und mit möglichst einfachen Worten geschehen. Die geduldige Redakteurin, die es mit der sehr jungen, sehr von sich eingenommenen Carin zu tun hatte (»Ich weiß alles!« – siehe oben), erklärte es mir mit drastischen Worten: »Stell dir das dümmstmögliche Gegenüber vor, ziehe noch einmal 20 Prozent ab und rechne reichlich Ablenkung durch Verkehr, Familie, Zähneputzen dazu. Wie also muss deine Nachricht klingen, damit diese Person es unter diesen Umständen versteht? Idealerweise in weniger als einer Minute?«
Natürlich wollte ich mir erst keine dummen, abgelenkten Zuhörer vorstellen, die beim Radiohören ihre Zahnleisten polierten oder mit der Ehefrau diskutierten, doch schließlich fiel der Groschen. Wollte ich gehört werden, musste ich nach den Regeln spielen. Ich habe also gelernt, wie ich sehr klar formulieren muss, damit meine Nachricht ankommt.
Das hat mir jedoch alles nichts genutzt, als ich später ein Volontariat in einer PR-Agentur machte. Dort sollten die Texte für die Pressevertreter zwar schon irgendwie journalistisch klingen und auf den Punkt sein, aber auch atmosphärisch, denn schließlich wollten unsere Kunden ja etwas verkaufen. Danach wechselte ich als Texterin in eine Werbeagentur und wieder wurde ich mit neuen Herausforderungen konfrontiert. So ein Werbeslogan muss schließlich knackig, originell, einzigartig, verstörend, charmant klingen. Idealerweise alles zusammen und in weniger als fünf Worten. Ähm. Ja.
Wieder später als Reisejournalistin durfte ich plötzlich schwelgen. Also nicht mit Adjektiven und Bandwurmsätzen oder erfundenen Begebenheiten, aber mit atmosphärischen Anekdoten und Beschreibungen, die die Leserschaft mental mit auf die Reise nahmen.
Es folgten diverse Sachbücher (vorwiegend im Ghostwriting) und Gebrauchstexte aller Art für meine Kunden – Webseiten, Broschüren, Präsentationen mit wieder neuen »Skill-Sets«, doch nichts davon hat mich fürs Romaneschreiben vorbereitet.
Dafür habe ich einige Schreibratgeber studiert und vor allem sehr, SEHR viele Romane gelesen. Gute und schlechte, alte und neue. Klassiker und Groschenhefte, hohe Literatur und reine Unterhaltung, alle möglichen Genres. Ich mach das bis heute. Ich weiß nicht, wie viele tausend Bücher ich in meinem Leben (seit ca. 1979 als Selbstleserin, davor schon als Zuhörerin) schon gelesen habe, aber dabei habe ich alles gelernt, was gute Geschichten ausmacht. Dieses instinktive Wissen umzusetzen ist dann jedoch die nächste Herausforderung.
Nach über 30 eigenen Romanen könnte ich behaupten, dass ich weiß, wie es funktioniert. Das stimmt auch zu einem gewissen Maß, aber ich merke gerade in letzter Zeit eine gewisse Unruhe in mir. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis ich meine Stimme gefunden habe (2018 mit dem Roman »Robin – High in the Sky«, ich habe es schon einige Male erwähnt – beispielsweise hier), doch nun fühle ich, dass ich mehr will. Dass ich Herausforderungen brauche und suche, dass ich immer besser werden möchte. Sei es bei der Auswahl der Themen oder Ausflügen in andere Genres. Meine Lernreise als Schreibende ist jedenfalls noch lange nicht vorbei.
2. Fürs Leben lernen
Als Kind der 70er und 80er Jahre, aufgewachsen in einer fleißigen, weißen, recht konservativen Mittelstandsfamilie waren viele Dinge einfach klar: Ich aß gerne Z*-Schnitzel und liebte N*küsse. »Zehn kleine N*« war eines meiner liebsten Kinderlieder, und ich dachte mir nichts dabei, dass alle die Kinder der Nachbarin als »süße kleine Schokocrossies« bezeichneten, weil sie einen dunkelhäutigen Vater hatten. Im Fasching verkleidete ich mich voller Begeisterung als Winnetou (war ich damals am Ende genderfluid?) und schlief mit meiner schwarzen Babypuppe namens Stefanie im Arm ein.
Die Tatsache, dass ich in diesem Text nun schon einige Worte »gesternt« habe, weil ich sie nicht mehr ausschreiben oder gar aussprechen möchte, liegt nicht daran, dass ich besonders »woke« wäre, was die adoleszente Jugend in meinem Umfeld vermutlich als »cringe« und etliche meiner gleichaltrigen Peergroup als »brainwashed« bezeichnen würde. Nein, es liegt daran, dass ich mich ernsthaft damit beschäftigt habe, warum es gut ist, gewisse Dinge nicht mehr so zu formulieren, wie man es noch vor einigen Jahren unbedacht getan hat. Die Bezeichnung N*küsse oder Z*schnitzel sind übrigens keine Traditionen, sondern Erfindungen kreativer Köpfe (siehe oben zum Thema Werbeslogan), die das in ihrer Zeit für witzige Ideen hielten.
Es gibt auch keinen Grund, beharrlich auf »Mohren«-Apotheken zu beharren, weil dieses Wort ja angeblich von »Mauren« kommt und daher eine gaaaaanz andere Bedeutung hat, blablabla. Entscheidend für mich – und glücklicherweise viele anderen Menschen – ist, dass ich durch unreflektierte Wortwahl keine anderen Menschen verletze. Ich bin mir nämlich des Privilegs durchaus bewusst, dass ich nicht an jeder Straßenecke mit Kneipen konfrontiert bin, die beispielsweise »Zur fetten, faltigen, weißen Frau« heißen.
Die Erkenntnis über meinen eigenen Rassismus, den ich natürlich nicht wahrhaben wollte und will, war für mich sehr unangenehm und ist ein andauernder Lernprozess. Vermutlich wird es (mir) niemals gelingen, völlig vorurteilsfrei durchs Leben zu ziehen, aber man kann sich ja wenigstens nach Kräften bemühen. Und lernen.
Vor zweieinhalb Jahren habe ich hier auf dieser Seite den Text »Zwischen Gendern und Ismen« veröffentlicht, in dem ich schon recht ausführlich zu diesen Dingen Stellung beziehe. Seitdem hat sich einiges geändert. Ich bin klarer in meiner Außendarstellung (und hoffentlich auch in meiner inneren Einstellung) und konsequenter in der Umsetzung. So habe ich damals bei problematischen Worten noch auf die Sternchen verzichtet und sie ausgeschrieben.
All jenen, die mir nun unterstellen mögen, ich würde sie bekehren oder gehirnwaschen wollen (wäre schön, wenn das ginge), kann ich Folgendes mitgeben: Es ist mir vollkommen egal, wenn du als Frau von dir selbst als Arzt oder Bäcker sprichst. Ich zucke nur innerlich zusammen, wenn du dir voller Provokationswillen ein Z*schnitzel bestellst und konsequent das generische Maskulinum verwendest, weil du ja die Sprache nicht ruinieren willst und Traditionen ehren möchtest. Aber ich werde nicht (mehr) die Klappe halten, wenn du offen rassistische Positionen vertrittst, misogyn bist oder andere Menschen wegen welcher Attribute auch immer herabsetzt!
Ich versuche, ein besserer, umsichtigerer Mensch zu sein und sensibler mit Sprache umzugehen. Das ist für mich, die ich vom Naturell her eher in die »Axt im Walde«-Kategorie falle, eine große Herausforderung. Ich tue es nicht, weil es vermeintlich der Zeitgeist erfordert oder weil mir irgendwer etwas vorschreibt (viel Erfolg damit!), sondern weil ich es für richtig und wichtig halte. Und ich weiß, dass ich erst am Anfang einer langen Reise stehe.
Und was die Veränderung der Sprache betrifft: Sprache war schon immer dynamisch und geprägt von neuen Entwicklungen und Trends, anderenfalls hätten wir uns niemals weiterentwickelt. Oder wäre es opportun, wenn wir heute noch so sprächen wie in den 1950er Jahren, wie im 18. Jahrhundert, wie im Mittelalter oder in der Steinzeit? Die Sprache wird das Gendern verkraften, bei manchen Menschen bin ich mir dagegen nicht so sicher.
3. Für die Zukunft lernen
Eigentlich gibt es bei diesem dritten Punkt nicht mehr viel zu sagen, denn bereits in den ersten beiden »Lernfeldern« sollte klargeworden sein, dass das Lernen im Idealfall nie aufhört. Wir kennen doch alle die starrsinnigen alten Verwandten, die darauf beharren, dass man gewisse Dinge bitte schön genauso handhaben sollte wie früher. Einfach »weil es schon immer so war«. Ich möchte diesen Punkt für mich so lange wie möglich herauszögern. Möchte weder technologisch noch ideell abgehängt werden. Und niemals möchte ich sagen: »Nach mir die Sintflut«.
Ich will mich weiterentwickeln als Mensch und als Autorin und möchte nie aufhören zu lernen. Ich will keine Angst vor künstlicher Intelligenz haben (tatsächlich fürchte ich mich deutlich mehr vor gewissen organischen Formen), sondern will die neuen Möglichkeiten kennenlernen und vielleicht sogar nutzen. Ich muss ganz sicher nicht alles mitmachen, aber ich werde hoffentlich vor nichts die Augen verschließen.